Jeffrey Sachs, aktueller Brief zu Europas Russophobie, 24.12-25 https://wp.me/paI27O-6vB
Lieber Helmut, wenn Du willst – kannst Du gerne den folgenden Artikel in unsere WhatsApp Gruppe stellen. Der Artikel IST von J Sachs, gestern veröffentlicht worden. Ich habe ihn für Dich übersetzt. Er ist wirklich gut. Sehr tiefe Recherche finde ich. Beste grüße
Der gesamte Text ist ganz unten…
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www.jeffsachs.org
Das Original auf der Seite von Jeff: https://www.cirsd.org/en/news/european-russophobia-and-europes-rejection-of-peace-a-two-century-failure
Auf Deutsch: https://youtu.be/aMpEiLgBLbQ
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Dieser kurze aktuelle neue Text hier ist laut Aussage von Frau Sachs ein Fake, aber nach meiner Meinung sehr gut gemacht… https://www.youtube.com/watch?v=5LxQDw55y_c
Thank you for your note which I am forwarding to Jeff.
And thank you for bringing this fake AI video tape to our attentions. There have been many and we keep asking YouTube to take them down. This is not Jeff’s real speech.
The best source of Jeff’s work is his website www.jeffsachs.org
Wishing you a happy holiday,
Sonia
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Europäische Russophobie und Europas Zurückweisung des Friedens: Ein zweihundertjähriges Scheitern
Zuerst eine Zusammenfassung von einer KI:
Der Text argumentiert, dass Europa seit dem 19. Jahrhundert wiederholt Chancen auf einen verhandelten Frieden mit Russland ausgeschlagen habe – mit langfristig selbstschädigenden Folgen. Die zentrale These lautet: Europas Politik habe russische Sicherheitsinteressen systematisch nicht als legitime Verhandlungsgegenstände anerkannt, sondern als moralisch illegitime Ansprüche interpretiert, die einzudämmen oder zu übergehen seien. Dieses Muster ziehe sich über unterschiedliche russische Regime (zaristisch, sowjetisch, postsowjetisch) hinweg und deute darauf hin, dass die treibende Konstante weniger russische Ideologie sei als europäische (und westliche) Sicherheitslogik.
Sachs betont, dass er Russland nicht als durchweg gutwillig oder vertrauenswürdig darstellt. Er kritisiert vielmehr eine dauerhafte Asymmetrie in Europas Sicherheitsverständnis: Europas eigene Machtpolitik – Einsatz von Gewalt, Bündnisbildung, imperiale und postimperiale Einflussnahme – werde als normal und legitim betrachtet, während vergleichbare russische Handlungen, insbesondere in Russlands Nachbarschaft, als inhärent destabilierend und illegitim gelten. Diese doppelte Standards hätten den diplomatischen Spielraum verengt, Kompromisse politisch delegitimiert und Konfliktrisiken erhöht. Ein wiederkehrender Kernfehler sei Europas Unfähigkeit (oder Weigerung), zwischen russischer Aggression und russischem Sicherheitsstreben zu unterscheiden. Maßnahmen, die Europa als Expansionismus lese, würden in Moskau häufig als Reduktion strategischer Verwundbarkeit in einer als feindlich wahrgenommenen Umgebung verstanden. Europas eigene Bündniserweiterungen und militärischen Dislozierungen würden gleichzeitig als defensiv gerahmt, selbst wenn sie Russlands strategische Tiefe unmittelbar verminderten—ein klassisches Sicherheitsdilemma.
Der Autor prägt den Begriff „strukturelle Russophobie“: weniger emotionale Feindseligkeit gegenüber Russen oder Kultur, sondern ein institutionell verankertes Vorurteil, wonach Russland als Ausnahme von üblichen diplomatischen Regeln gilt. Während bei anderen Großmächten legitime Sicherheitsinteressen unterstellt und abgewogen würden, gälten russische Interessen als illegitim, solange sie nicht „bewiesen“ seien. Dies verwandle politische Streitfragen in moralische Absoluta und mache Kompromiss verdächtig.
Sachs zeichnet vier historische Bögen nach:
1.
19. Jahrhundert / Krimkrieg: Russland wird vom Mitgaranten der europäischen Ordnung nach 1815 zur „designierten Bedrohung“. Der Krimkrieg gilt als frühes Schlüsselereignis: ein Krieg, der trotz möglicher Kompromisse geführt worden sei, getrieben von moralisiertem Antirussismus und imperialen Ängsten.
2.
Revolution und Zwischenkriegszeit: Westliche Interventionen im russischen Bürgerkrieg und die Ausgrenzung der UdSSR aus tragfähiger kollektiver Sicherheit hätten Europas Stabilität nicht erhöht, sondern die Voraussetzungen für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verschärft, einschließlich des Scheiterns, frühzeitig gemeinsam gegen den Faschismus zu handeln.
3.
Früher Kalter Krieg: Sachs betont die Abkehr von Potsdamer Prinzipien (u. a. deutsche Demilitarisierung) sowie die Ablehnung der Stalin-Note 1952 (Wiedervereinigung gegen Neutralität). Dies habe die Blockkonfrontation verfestigt, Deutschland langfristig geteilt und Europas Militarisierung vertieft.
4.
Post–Kalter Krieg: Die große Chance eines inklusiven Sicherheitsarrangements (Gorbatschows „Gemeinsames Europäisches Haus“, Charta von Paris) sei durch NATO-Erweiterung und eine asymmetrische Sicherheitsarchitektur ersetzt worden, die „um Russland herum“ statt „mit Russland“
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C:\Users\PQ\Elements\Documents\BSW\Europäische Russophobie und Europas Zurückweisung des Friedens_J Sachs Dec 2025.docx 2 | P a g e gebaut wurde. In dieser Logik seien russische Einwände als illegitim moralisiert worden; die Folge seien eskalierende Konfrontationen bis hin zum Krieg in der Ukraine, Kollaps von Rüstungskontrolle und Verlust europäischer strategischer Autonomie.
Als Konsequenz diagnostiziert Sachs kumulative Kosten: Krieg in der Ukraine, Erosion nuklearer Rüstungskontrolle, Energie- und Industrieschocks, Aufrüstungsspirale, EU-Fragmentierung und wachsende Abhängigkeit Europas von externer Macht. Seine Schlussfolgerung: Frieden mit Russland erfordere kein naives Vertrauen, sondern die Anerkennung, dass dauerhafte europäische Sicherheit nicht durch die Abwertung russischer Sicherheitsinteressen erreichbar sei. Solange Europa diesen Reflex nicht aufgebe, werde es weiterhin Frieden verwerfen, wenn er möglich ist – und dafür steigende Preise zahlen.
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Europa hat wiederholt den Frieden mit Russland gerade in Momenten zurückgewiesen, in denen eine verhandelte Einigung möglich gewesen wäre – und diese Zurückweisungen haben sich als zutiefst selbstschädigend erwiesen. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart wurden Russlands Sicherheitsbedenken nicht als legitime Interessen behandelt, die innerhalb einer umfassenderen europäischen Ordnung zu verhandeln wären, sondern als moralische Verfehlungen, denen man widerstehen, die man eindämmen oder übergehen müsse. Dieses Muster hat über grundlegend unterschiedliche russische Regime hinweg Bestand gehabt – zaristisch, sowjetisch und postsowjetisch – was nahelegt, dass das Problem nicht primär in russischer Ideologie liegt, sondern in Europas fortdauernder Weigerung, Russland als legitimen und gleichrangigen Sicherheitsakteur anzuerkennen.
Mein Argument lautet nicht, dass Russland durchweg wohlwollend oder vertrauenswürdig gewesen sei. Vielmehr ist es so, dass Europa bei der Auslegung von Sicherheit konsequent mit zweierlei Maß gemessen hat. Europa betrachtet den eigenen Einsatz von Gewalt, Bündnisbildung sowie imperiale oder postimperiale Einflussnahme als normal und legitim, während es vergleichbares russisches Verhalten – insbesondere in der Nähe russischer Grenzen – als inhärent destabilisierend und illegitim deutet. Diese Asymmetrie hat den diplomatischen Spielraum verengt, Kompromisse delegitimiert und Kriege wahrscheinlicher gemacht. Ebenso bleibt dieser selbstschädigende Kreislauf das prägende Merkmal der europäisch-russischen Beziehungen im 21. Jahrhundert.
Ein wiederkehrendes Versagen in dieser Geschichte ist Europas Unfähigkeit – oder Weigerung –, zwischen russischer Aggression und russischem Sicherheitsstreben zu unterscheiden. In mehreren Epochen wurden Handlungen, die in Europa als Beleg eines angeblich angeborenen russischen Expansionismus galten, aus Moskauer Perspektive als Versuche verstanden, die eigene Verwundbarkeit in einem zunehmend feindlichen Umfeld zu verringern. Zugleich interpretierte Europa die eigene Bündnispolitik, militärische Dislozierungen und institutionelle Expansion konsequent als harmlos und defensiv – selbst dann, wenn diese Maßnahmen unmittelbar Russlands strategische Tiefe reduzierten. Diese Asymmetrie steht im Zentrum des Sicherheitsdilemmas, das wiederholt in Konflikte eskalierte: Die Verteidigung der einen Seite gilt als legitim, während die Angst der anderen als Paranoia oder böser Wille abgetan wird.
Westliche Russophobie sollte nicht primär als emotionale Feindseligkeit gegenüber Russen oder russischer Kultur verstanden werden. Vielmehr wirkt sie als strukturelles Vorurteil, das in europäischem Sicherheitsdenken verankert ist: die Annahme, Russland sei die Ausnahme von normalen diplomatischen Regeln. Während bei anderen Großmächten unterstellt wird, dass sie legitime Sicherheitsinteressen haben, die auszugleichen und zu berücksichtigen sind, gelten Russlands Interessen als illegitim, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Diese Annahme überlebt Regimewechsel, Ideologien und Führungswechsel. Sie verwandelt politische Meinungsverschiedenheiten in moralische Absolutheiten und macht Kompromisse verdächtig. Dadurch funktioniert Russophobie weniger als Gefühl denn als systemische Verzerrung – eine, die Europas eigene Sicherheit wiederholt unterminiert.
Ich zeichne dieses Muster entlang vier großer historischer Bögen nach. Erstens untersuche ich das 19. Jahrhundert: beginnend mit Russlands zentraler Rolle im Konzert Europas nach 1815 und seiner anschließenden Verwandlung zur von Europa designierten Bedrohung. Der Krimkrieg erscheint als Gründungstrauma moderner Russophobie: ein Wahlkrieg, den Großbritannien und Frankreich trotz verfügbarer diplomatischer Kompromisse führten – getrieben von moralisierter Feindseligkeit und imperialer Angst statt von unvermeidlicher Notwendigkeit. Das Pogodin-Memorandum von 1853 über westliche Doppelstandards, mit Zar Nikolaus I. berühmter Randnotiz „Das ist der Kern der Sache“, dient nicht bloß als
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Anekdote, sondern als analytischer Schlüssel zu Europas Doppelstandards sowie zu Russlands nachvollziehbaren Ängsten und Ressentiments.
Zweitens wende ich mich der revolutionären und der Zwischenkriegszeit zu, als Europa und die USA von Rivalität mit Russland zu direkter Intervention in Russlands innere Angelegenheiten übergingen. Ich untersuche im Detail die westlichen Militäreingriffe im russischen Bürgerkrieg, die Weigerung, die Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren in ein dauerhaftes System kollektiver Sicherheit einzubinden, sowie das katastrophale Scheitern, sich gegen den Faschismus zu verbünden – unter besonderer Berücksichtigung der Archivarbeit von Michael Jabara Carley. Das Ergebnis war nicht die Eindämmung sowjetischer Macht, sondern der Zusammenbruch europäischer Sicherheit und die Verwüstung des Kontinents im Zweiten Weltkrieg.
Drittens bot der frühe Kalte Krieg einen Moment, der eigentlich eine entscheidende Korrektur hätte sein müssen; dennoch wies Europa erneut den Frieden zurück, als er erreichbar gewesen wäre. Obwohl die Potsdamer Konferenz eine Einigung über die Entmilitarisierung Deutschlands erzielt hatte, brach der Westen diese Zusagen später. Sieben Jahre später wies der Westen in ähnlicher Weise die Stalin-Note zurück, die eine deutsche Wiedervereinigung auf Grundlage der Neutralität anbot. Die Ablehnung der Wiedervereinigung durch Kanzler Adenauer – trotz klarer Hinweise darauf, dass Stalins Angebot ernst gemeint war – zementierte Deutschlands Nachkriegs-Teilung, verfestigte die Blockkonfrontation und band Europa an Jahrzehnte der Militarisierung.
Schließlich analysiere ich die Ära nach dem Kalten Krieg, als Europa die klarste Chance hatte, diesen destruktiven Kreislauf zu durchbrechen. Gorbatschows Vision eines „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ und die Charta von Paris formulierten eine Sicherheitsordnung, die auf Inklusion und Unteilbarkeit beruhte. Stattdessen entschied sich Europa für NATO-Erweiterung, institutionelle Asymmetrie und eine Sicherheitsarchitektur, die um Russland herum statt mit Russland gebaut wurde. Diese Wahl war nicht zufällig. Sie spiegelte eine anglo-amerikanische Großstrategie wider – am deutlichsten artikuliert von Zbigniew Brzezinski –, die Eurasien als zentrales Feld globaler Konkurrenz und Russland als Macht betrachtete, die daran zu hindern sei, Sicherheit oder Einfluss zu konsolidieren.
Die Folgen dieses langjährigen Musters der Geringschätzung russischer Sicherheitsinteressen sind heute mit brutaler Klarheit sichtbar. Der Krieg in der Ukraine, der Zusammenbruch nuklearer Rüstungskontrolle, Europas Energie- und Industrieschocks, Europas neues Wettrüsten, die politische Fragmentierung der EU und Europas Verlust strategischer Autonomie sind keine Ausnahmen. Es sind die kumulierten Kosten von zwei Jahrhunderten europäischer Weigerung, Russlands Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen.
Meine Schlussfolgerung lautet: Frieden mit Russland erfordert kein naives Vertrauen. Er erfordert die Anerkennung, dass dauerhafte europäische Sicherheit nicht aufgebaut werden kann, indem man die Legitimität russischer Sicherheitsinteressen bestreitet. Solange Europa diesen Reflex nicht aufgibt, wird es in einem Kreislauf gefangen bleiben, in dem es Frieden zurückweist, wenn er verfügbar ist – und dafür immer höhere Preise zahlt.
Die Ursprünge struktureller Russophobie
Das wiederkehrende europäische Scheitern, Frieden mit Russland zu schaffen, ist nicht primär ein Produkt Putins, des Kommunismus oder überhaupt der Ideologien des 20. Jahrhunderts. Es ist viel älter – und es ist strukturell. Wiederholt wurden Russlands Sicherheitsbedenken von Europa nicht als legitime, verhandelbare
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Interessen behandelt, sondern als moralische Verfehlungen. In diesem Sinne beginnt die Geschichte mit der Transformation Russlands im 19. Jahrhundert: von einem Mitgaranten des europäischen Gleichgewichts zur als Bedrohung definierten Gefahr des Kontinents.
Nach Napoleons Niederlage 1815 war Russland nicht randständig für Europa; es war zentral. Russland trug einen entscheidenden Teil der Last beim Sieg über Napoleon, und der Zar war einer der Hauptarchitekten der nachnapoleonischen Ordnung. Das Konzert Europas beruhte auf einem impliziten Grundsatz: Frieden erfordert, dass Großmächte einander als legitime Stakeholder anerkennen und Krisen durch Konsultation statt durch moralisierende Dämonisierung bewältigen. Doch innerhalb einer Generation gewann in der britischen und französischen politischen Kultur eine Gegenannahme an Stärke: Russland sei keine normale Großmacht, sondern eine zivilisatorische Gefahr – eine, deren Forderungen selbst dann, wenn sie lokal und defensiv seien, als inhärent expansionistisch und daher inakzeptabel zu behandeln seien.
Dieser Wandel wird mit außergewöhnlicher Klarheit in einem Dokument sichtbar, das Orlando Figes in The Crimean War: A History (2010) als am Scharnier zwischen Diplomatie und Krieg verfasst hervorhebt: Michail Pogodins Memorandum an Zar Nikolaus I. von 1853. Pogodin zählt Episoden westlicher Nötigung und imperialer Gewalt auf – weit entfernte Eroberungen und Wahlkriege – und kontrastiert sie mit Europas Empörung über russische Handlungen in angrenzenden Regionen:
Frankreich nimmt der Türkei Algerien, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum: nichts davon stört das Gleichgewicht der Mächte; aber wenn Russland die Moldau und die Walachei besetzt, wenn auch nur vorübergehend, dann stört das das Gleichgewicht der Mächte. Frankreich besetzt Rom und bleibt dort mehrere Jahre in Friedenszeiten: das ist nichts; aber Russland denkt nur daran, Konstantinopel zu besetzen, und der Frieden Europas ist bedroht. Die Engländer erklären den Chinesen den Krieg, die sie – wie es scheint – beleidigt haben: niemand hat das Recht zu intervenieren; aber Russland ist verpflichtet, Europa um Erlaubnis zu bitten, wenn es mit seinem Nachbarn streitet. England bedroht Griechenland, um die falschen Ansprüche eines elenden Juden zu unterstützen, und verbrennt dessen Flotte: das ist eine rechtmäßige Handlung; aber Russland fordert einen Vertrag, um Millionen Christen zu schützen, und das soll seine Position im Osten auf Kosten des Gleichgewichts der Mächte stärken.
Pogodin schließt: „Vom Westen können wir nichts erwarten als blinden Hass und Bosheit“, worauf Nikolaus berühmt an den Rand schrieb: „Das ist der ganze Punkt.“
Der Austausch Pogodin–Nikolaus ist wichtig, weil er die wiederkehrende Pathologie rahmt, die in jeder großen Episode danach zurückkehrt. Europa würde wiederholt auf der universellen Legitimität der eigenen Sicherheitsansprüche bestehen, während es Russlands Sicherheitsansprüche als vorgeschoben oder verdächtig behandelte. Diese Haltung erzeugt eine besondere Art von Instabilität: Sie macht Kompromisse in westlichen Hauptstädten politisch illegitim, wodurch Diplomatie nicht deshalb scheitert, weil ein Deal unmöglich wäre, sondern weil die Anerkennung russischer Interessen als moralischer Fehler gilt.
Der Krimkrieg ist die erste entscheidende Manifestation dieser Dynamik. Während die unmittelbare Krise den Niedergang des Osmanischen Reiches und Streitigkeiten um religiöse Stätten betraf, lag das tiefere Thema darin, ob Russland eine anerkannte Position im Schwarzmeer–Balkan-Raum sichern durfte, ohne als Räuber behandelt zu werden. Moderne diplomatische Rekonstruktionen betonen, dass sich die Krimkrise von früheren „Orientkrisen“ unterschied, weil die kooperativen Gewohnheiten des Konzerts bereits erodierten und die britische Öffentlichkeit in eine extreme anti-russische Haltung umgeschwenkt war, die den Spielraum für eine Einigung verengte.
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Das Aufschlussreiche ist, dass ein verhandeltes Ergebnis verfügbar war. Die Wiener Note sollte russische Anliegen mit osmanischer Souveränität versöhnen und den Frieden bewahren. Doch sie brach unter Misstrauen und politischen Anreizen zur Eskalation zusammen. Es folgte der Krimkrieg. Er war in keinem strengen strategischen Sinne „notwendig“; er wurde wahrscheinlich, weil Kompromisse mit Russland für Großbritannien und Frankreich politisch toxisch geworden waren. Die Folgen waren selbstschädigend für Europa: enorme Opferzahlen, keine dauerhafte Sicherheitsarchitektur und die Verfestigung eines ideologischen Reflexes, der Russland als Ausnahme von normalem Großmacht-Verhandeln behandelte. Mit anderen Worten: Europa gewann keine Sicherheit, indem es Russlands Sicherheitsbedenken zurückwies. Es erzeugte vielmehr einen längeren Zyklus der Feindschaft, der spätere Krisen schwerer beherrschbar machte.
Die westliche Militärkampagne gegen den Bolschewismus
Dieser Kreislauf setzte sich in der revolutionären Zäsur von 1917 fort. Als sich Russlands Regimetyp änderte, wechselte der Westen nicht von Rivalität zu Neutralität; stattdessen ging er zu aktiver Intervention über und behandelte die Existenz eines souveränen russischen Staates außerhalb westlicher Vormundschaft als intolerabel.
Die bolschewistische Revolution und der anschließende Bürgerkrieg erzeugten einen komplexen Konflikt mit Roten, Weißen, nationalen Bewegungen und ausländischen Armeen. Entscheidend ist: Die westlichen Mächte beobachteten den Ausgang nicht nur. Sie intervenierten militärisch in Russland über riesige Räume hinweg – Nordrussland, die baltischen Zugänge, das Schwarze Meer, Sibirien und den Fernen Osten – unter Begründungen, die sich rasch von Kriegslogistik zu Regimewechsel verschoben.
Man kann die übliche „offizielle“ Begründung für die anfängliche Intervention anerkennen: die Sorge, dass Kriegsmaterial nach Russlands Ausscheiden aus dem Ersten Weltkrieg in deutsche Hände fallen könnte, und der Wunsch, eine Ostfront wieder zu eröffnen. Doch als Deutschland im November 1918 kapitulierte, endete die Intervention nicht; sie verwandelte sich. Diese Transformation erklärt, warum die Episode so bedeutsam ist: Sie zeigt eine Bereitschaft, selbst inmitten der Verwüstung des Ersten Weltkriegs Gewalt einzusetzen, um Russlands innere politische Zukunft zu gestalten.
David Foglesongs America’s Secret War against Bolshevism (1995) – bei UNC Press erschienen und weiterhin das Standardwerk zur US-Politik – erfasst dies präzise. Foglesong beschreibt die US-Intervention nicht als verwirrendes Nebengeschehen, sondern als anhaltenden Versuch, zu verhindern, dass der Bolschewismus seine Macht konsolidiert. Neuere hochwertige erzählende Geschichtsschreibung hat diese Episode zudem in die Öffentlichkeit zurückgebracht; insbesondere beschreibt Anna Reids A Nasty Little War (2024) die westliche Intervention als schlecht ausgeführtes, aber bewusstes Bemühen, die bolschewistische Revolution von 1917 rückgängig zu machen.
Schon der geografische Umfang ist aufschlussreich, denn er untergräbt spätere westliche Behauptungen, Russlands Ängste seien bloße Paranoia gewesen. Alliierte Truppen landeten in Archangelsk und Murmansk für Operationen in Nordrussland; in Sibirien stießen sie über Wladiwostok und entlang der Eisenbahnkorridore vor; japanische Kräfte wurden in großem Maßstab im Fernen Osten eingesetzt; und im Süden gab es Landungen und Operationen um Odessa und Sewastopol. Bereits ein einfacher Überblick über Daten und Schauplätze der Intervention – von November 1917 bis in die frühen 1920er Jahre – zeigt die Beharrlichkeit der ausländischen Präsenz und ihre enorme Reichweite.
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Es handelte sich auch nicht bloß um „Beratung“ oder symbolische Präsenz. Westliche Kräfte lieferten, bewaffneten und überwachten in einigen Fällen faktisch Formationen der Weißen. Die intervenierenden Mächte verstrickten sich in die moralische und politische Hässlichkeit der weißen Politik, einschließlich reaktionärer Programme und gewaltsamer Gräueltaten. Diese Realität macht die Episode besonders korrosiv für westliche moralische Erzählungen: Der Westen bekämpfte den Bolschewismus nicht nur, sondern tat dies häufig durch Bündnisse mit Kräften, deren Brutalität und Kriegsziele nur schwer mit späteren liberalen Legitimationsansprüchen vereinbar waren.
Aus Moskauer Sicht bestätigte diese Intervention Pogodins Warnung von Jahrzehnten zuvor: Europa und die USA waren bereit, Gewalt einzusetzen, um zu bestimmen, ob Russland als autonome Macht existieren dürfe. Diese Episode wurde zum Fundament sowjetischer Erinnerung und verstärkte die Überzeugung, westliche Mächte hätten versucht, die Revolution „in ihrer Wiege zu erwürgen“. Sie zeigte, dass westliche moralische Rhetorik über Frieden und Ordnung nahtlos mit Zwangskampagnen koexistieren konnte, sobald russische Souveränität auf dem Spiel stand.
Die Intervention hatte zudem eine entscheidende indirekte Folge. Indem der Westen in Russlands Bürgerkrieg eingriff, stärkte er unbeabsichtigt die innenpolitische Legitimität der Bolschewiki. Die Präsenz ausländischer Armeen und ausländisch unterstützter Weißer erlaubte den Bolschewiki, zu behaupten, sie verteidigten Russlands Unabhängigkeit gegen imperiale Einkreisung. Historische Darstellungen weisen konsistent darauf hin, wie effektiv die Bolschewiki die alliierte Präsenz für Propaganda und Legitimität nutzten. Mit anderen Worten: Der Versuch, den Bolschewismus zu „brechen“, half, genau das Regime zu festigen, das man zerstören wollte.
Diese Dynamik zeigt den präzisen historischen Kreislauf: Russophobie erweist sich strategisch als kontraproduktiv für Europa. Sie treibt westliche Mächte zu Zwangspolitiken, die die Herausforderung nicht lösen, sondern verschärfen. Sie erzeugt russische Kränkungen und Sicherheitsängste, die spätere westliche Führungen als irrational abtun werden. Zudem verengt sie den künftigen diplomatischen Spielraum, indem sie Russland – unabhängig vom Regime – lehrt, dass westliche Zusagen einer Einigung unaufrichtig sein könnten.
Als sich in den frühen 1920er Jahren ausländische Truppen zurückzogen und der Sowjetstaat konsolidierte, hatte Europa bereits zwei schicksalhafte Entscheidungen getroffen, die das nächste Jahrhundert prägen sollten. Erstens hatte es eine politische Kultur begünstigt, die handhabbare Streitigkeiten – wie die Krimkrise – zu großen Kriegen machte, indem sie russische Interessen nicht als legitim behandelte. Zweitens hatte es durch militärische Intervention gezeigt, dass es bereit war, Gewalt nicht nur zur Gegenwehr gegen russische Expansion, sondern zur Gestaltung russischer Souveränität und Regimeausgänge einzusetzen. Diese Entscheidungen stabilisierten Europa nicht; vielmehr säten sie die Saat späterer Katastrophen: das zwischenkriegszeitliche Scheitern kollektiver Sicherheit, die permanente Militarisierung des Kalten Krieges und die Rückkehr zur Grenzeskalation in der Ordnung nach dem Kalten Krieg.
Kollektive Sicherheit und die Entscheidung gegen Russland
Mitte der 1920er Jahre sah sich Europa einem Russland gegenüber, das jeden Versuch überstanden hatte – Revolution, Bürgerkrieg, Hunger und direkte ausländische Militärintervention –, es zu zerstören. Der entstehende Sowjetstaat war arm, traumatisiert und zutiefst misstrauisch, aber unbestreitbar souverän. Genau in diesem Moment stand Europa vor einer Wahl, die sich wiederholt wiederholen würde: ob dieses
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Russland als legitimer Sicherheitsakteur zu behandeln sei, dessen Interessen in die europäische Ordnung einzubauen seien, oder als dauerhafter Außenseiter, dessen Anliegen ignoriert, vertagt oder übergangen werden könnten. Europa entschied sich für Letzteres – und die Kosten waren enorm.
Das Erbe der alliierten Interventionen im russischen Bürgerkrieg überschattete die spätere Diplomatie. Aus Moskauer Sicht hatte Europa nicht nur mit bolschewistischer Ideologie gehadert; es hatte versucht, Russlands innere politische Zukunft mit Gewalt zu bestimmen. Diese Erfahrung war von großer Bedeutung. Sie prägte sowjetische Annahmen über westliche Absichten und schuf tiefe Skepsis gegenüber westlichen Zusicherungen. Statt diese Geschichte anzuerkennen und Versöhnung zu suchen, verhielt sich europäische Diplomatie oft so, als sei sowjetisches Misstrauen irrational – ein Muster, das sich bis in den Kalten Krieg und darüber hinaus fortsetzte.
In den 1920er Jahren schwankte Europa zwischen taktischer Annäherung und strategischer Ausgrenzung. Verträge wie Rapallo (1922) zeigten, dass Deutschland – selbst ein Paria nach Versailles – pragmatisch mit Sowjetrussland umgehen konnte. Für Großbritannien und Frankreich blieb der Umgang mit Moskau jedoch provisorisch und instrumentell. Die UdSSR wurde toleriert, wenn es britischen und französischen Interessen diente, und beiseitegeschoben, wenn nicht. Es gab keinen ernsthaften Versuch, Russland als Gleichrangigen in eine dauerhafte europäische Sicherheitsarchitektur zu integrieren.
Diese Ambivalenz verhärtete sich in den 1930er Jahren zu etwas deutlich Gefährlicherem und Selbstzerstörerischem. Während Hitlers Aufstieg eine existentielle Bedrohung für Europa darstellte, behandelten die führenden Mächte des Kontinents den Bolschewismus wiederholt als größere Gefahr. Das war nicht nur Rhetorik; es prägte konkrete Politikentscheidungen – unterlassene Allianzen, verspätete Garantien und unterminierte Abschreckung.
Wesentlich ist: Dies war nicht nur ein anglo-amerikanisches Versagen, und Europa war nicht bloß passiv. Europäische Regierungen hatten Handlungsspielraum – und nutzten ihn entschlossen und katastrophal. Frankreich, Großbritannien und Polen trafen wiederholt strategische Entscheidungen, die die Sowjetunion aus europäischen Sicherheitsarrangements ausschlossen, selbst dann, wenn sowjetische Beteiligung die Abschreckung gegen Hitlers Deutschland gestärkt hätte. Französische Führungen bevorzugten ein System bilateraler Garantien in Osteuropa, das französischen Einfluss bewahrte, aber Sicherheitsintegration mit Moskau vermied. Polen verweigerte – mit stillschweigender Rückendeckung Londons und Paris’ – Transitrechte für sowjetische Kräfte selbst zur Verteidigung der Tschechoslowakei und priorisierte die Angst vor sowjetischer Präsenz gegenüber der unmittelbaren Gefahr deutscher Aggression. Das waren keine kleinen Entscheidungen. Sie spiegelten eine europäische Präferenz wider: Hitlerischen Revisionismus zu „managen“, statt sowjetische Macht einzubinden; lieber Nazi-Expansion zu riskieren, als Russland als Sicherheitspartner zu legitimieren. In diesem Sinne scheiterte Europa nicht nur an kollektiver Sicherheit mit Russland; es entschied sich aktiv für eine alternative Sicherheitslogik, die Russland ausschloss und schließlich an ihren eigenen Widersprüchen zerbrach.
Hier ist Michael Jabara Carleys Archivarbeit entscheidend. Seine Forschung zeigt, dass die Sowjetunion – insbesondere unter Außenkommissar Maxim Litwinow – anhaltende, explizite und gut dokumentierte Anstrengungen unternahm, ein System kollektiver Sicherheit gegen Nazi-Deutschland aufzubauen. Das waren keine vagen Gesten. Sie umfassten Vorschläge für gegenseitige Beistandsverträge, militärische Koordination und explizite Garantien für Staaten wie die Tschechoslowakei. Carley zeigt, dass der Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund 1934 von echten Versuchen begleitet war, kollektive Abschreckung zu operationalisieren – nicht bloß Legitimität zu suchen.
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Diese Bemühungen kollidierten jedoch mit einer westlichen ideologischen Hierarchie, in der Antikommunismus Antifaschismus übertrumpfte. In London und Paris fürchteten Eliten, ein Bündnis mit Moskau könne den Bolschewismus innen- und außenpolitisch legitimieren. Wie Carley dokumentiert, sorgten sich britische und französische Entscheidungsträger oft weniger um Hitlers Drohungen als um die politischen Folgen einer Kooperation mit der UdSSR. Die Sowjetunion wurde nicht als notwendiger Partner gegen eine gemeinsame Bedrohung behandelt, sondern als Belastung, deren Einbindung europäische Politik „kontaminieren“ würde.
Diese Hierarchie hatte tiefgreifende strategische Folgen. Die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland war nicht nur eine Fehleinschätzung Hitlers; sie war das Produkt einer Weltsicht, die Nazi-Revisionismus als potenziell handhabbar betrachtete, sowjetische Macht jedoch als inhärent subversiv. Polens Weigerung, sowjetischen Truppen Transitrechte zur Verteidigung der Tschechoslowakei zu gewähren – aufrechterhalten mit stiller westlicher Unterstützung – ist emblematisch. Europäische Staaten bevorzugten das Risiko deutscher Aggression gegenüber der Gewissheit sowjetischer Beteiligung, selbst als diese Beteiligung ausdrücklich defensiv angeboten wurde.
Der Höhepunkt dieses Scheiterns kam 1939. Die anglo-französischen Verhandlungen mit der Sowjetunion in Moskau wurden – entgegen späterer Mythen – nicht durch sowjetische Doppelzüngigkeit sabotiert. Sie scheiterten, weil Großbritannien und Frankreich nicht bereit waren, bindende Verpflichtungen einzugehen oder die UdSSR als gleichrangigen militärischen Partner anzuerkennen. Carleys Rekonstruktion zeigt, dass die westlichen Delegationen ohne Verhandlungsvollmacht, ohne Dringlichkeit und ohne politische Rückendeckung anreisten, um ein echtes Bündnis abzuschließen. Als die Sowjets immer wieder die essentielle Frage jeder Allianz stellten – „Seid ihr bereit zu handeln?“ – lautete die Antwort faktisch: nein.
Der Molotow–Ribbentrop-Pakt, der darauf folgte, wird seither als rückwirkende Rechtfertigung westlichen Misstrauens genutzt. Carleys Arbeit kehrt diese Logik um: Der Pakt war nicht die Ursache des europäischen Scheiterns; er war die Konsequenz. Er entstand nach Jahren westlicher Weigerung, kollektive Sicherheit mit Russland aufzubauen. Es war eine brutale, zynische und tragische Entscheidung – aber getroffen in einem Kontext, in dem Großbritannien, Frankreich und Polen bereits den Frieden mit Russland in der einzigen Form zurückgewiesen hatten, die Hitler hätte stoppen können.
Das Ergebnis war katastrophal. Europa zahlte den Preis nicht nur in Blut und Zerstörung, sondern im Verlust eigener Handlungsfähigkeit. Der Krieg, den Europa nicht verhinderte, zerstörte seine Macht, erschöpfte seine Gesellschaften und machte den Kontinent zum Hauptschlachtfeld der Supermacht-Rivalität. Wieder einmal erzeugte die Zurückweisung von Frieden mit Russland keine Sicherheit; sie erzeugte einen weit schlimmeren Krieg unter weit schlimmeren Bedingungen.
Man könnte erwarten, dass das Ausmaß dieser Katastrophe Europas Umgang mit Russland nach 1945 grundlegend neu ausrichten würde. Das tat es nicht.
Von Potsdam zur NATO: Die Architektur der Ausgrenzung
Die unmittelbaren Nachkriegsjahre waren geprägt von einem raschen Übergang von Allianz zu Konfrontation. Noch bevor Deutschland kapitulierte, wies Churchill britische Militärplaner schockierenderweise an, einen unmittelbaren Konflikt mit der Sowjetunion zu erwägen. „Operation Unthinkable“, 1945 entworfen, sah vor, anglo-amerikanische Macht – und sogar wiederbewaffnete deutsche Einheiten – zu nutzen, um Russland 1945 oder bald danach westlichen Willen aufzuzwingen. Auch wenn der
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Plan als militärisch unrealistisch galt und schließlich verworfen wurde, zeigt schon seine Existenz, wie tief die Annahme verankert war, russische Macht sei illegitim und müsse notfalls mit Gewalt begrenzt werden.
Auch die westliche Diplomatie mit der Sowjetunion scheiterte. Europa hätte anerkennen müssen, dass die Sowjetunion die Hauptlast beim Sieg über Hitler getragen hatte – 27 Millionen Tote – und dass Russlands Sicherheitsbedenken bezüglich einer deutschen Wiederbewaffnung absolut real waren. Europa hätte die Lehre verinnerlichen müssen, dass dauerhafter Frieden die ausdrückliche Berücksichtigung russischer Kernanliegen erfordert, vor allem die Verhinderung eines remilitarisierten Deutschlands, das erneut die osteuropäischen Ebenen bedrohen könnte.
In formaler diplomatischer Hinsicht wurde diese Lehre zunächst akzeptiert. In Jalta und, entscheidender, in Potsdam im Sommer 1945 einigten sich die Siegermächte auf klare Grundprinzipien für Nachkriegsdeutschland: Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung, Entflechtung (Decartelization) und Reparationen. Deutschland sollte als eine wirtschaftliche Einheit behandelt werden; seine Streitkräfte sollten aufgelöst werden; und seine politische Zukunft sollte ohne Wiederbewaffnung oder Bündnisverpflichtungen gestaltet werden.
Für die Sowjetunion waren diese Prinzipien nicht abstrakt; sie waren existentiell. Zweimal in dreißig Jahren hatte Deutschland Russland überfallen und Verwüstungen in einem in der europäischen Geschichte beispiellosen Ausmaß verursacht. Die sowjetischen Verluste im Zweiten Weltkrieg prägten eine Sicherheitsperspektive, die ohne Anerkennung dieses Traumas nicht verstanden werden kann. Neutralität und dauerhafte Entmilitarisierung Deutschlands waren aus sowjetischer Sicht keine Verhandlungsmasse; sie waren Mindestbedingungen für eine stabile Nachkriegsordnung.
Auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 wurden diese Sorgen formal anerkannt. Die Alliierten vereinbarten, dass Deutschland nicht wieder militärische Macht aufbauen dürfe. Die Konferenzsprache war explizit: Deutschland sollte daran gehindert werden, „jemals wieder seine Nachbarn oder den Frieden der Welt zu bedrohen“. Die Sowjetunion akzeptierte die vorübergehende Teilung Deutschlands in Besatzungszonen gerade deshalb, weil diese Teilung als administrative Notwendigkeit, nicht als dauerhafte geopolitische Ordnung verstanden wurde.
Doch nahezu unmittelbar begannen die Westmächte, diese Verpflichtungen umzudeuten – und dann stillschweigend zu demontieren. Der Wandel trat ein, weil sich die strategischen Prioritäten der USA und Großbritanniens veränderten. Wie Melvyn Leffler in A Preponderance of Power (1992) zeigt, betrachteten amerikanische Planer rasch deutsche wirtschaftliche Erholung und politische Ausrichtung auf den Westen als wichtiger, als eine demilitarisierte Deutschlandordnung aufrechtzuerhalten, die Moskau akzeptieren konnte. Die Sowjetunion, zuvor unverzichtbarer Verbündeter, wurde zu einem potenziellen Gegner umdefiniert, dessen Einfluss in Europa einzudämmen sei.
Diese Neuorientierung ging jeder formalen militärischen Krise des Kalten Krieges voraus. Lange vor der Berliner Blockade begann westliche Politik, die westlichen Zonen wirtschaftlich und politisch zu konsolidieren. Die Bildung der Bizone 1947, gefolgt von der Trizone, widersprach direkt dem Potsdamer Prinzip, Deutschland als eine wirtschaftliche Einheit zu behandeln. Die Einführung einer separaten Währung in den Westzonen 1948 war keine technische Anpassung; sie war ein entscheidender politischer Akt, der die deutsche Teilung funktional irreversibel machte. Aus Moskauer Sicht waren diese Schritte einseitige Revisionen der Nachkriegsregelung.
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Die sowjetische Reaktion – die Berliner Blockade – wird oft als erster Schuss kalterkriegerischer Aggression dargestellt. Im Kontext erscheint sie jedoch weniger als Versuch, West-Berlin zu erobern, sondern als Zwangsmittel, um zur Viermächteverwaltung zurückzukehren und die Konsolidierung eines separaten westdeutschen Staates zu verhindern. Unabhängig davon, wie man die Blockade bewertet, wurzelt ihre Logik in der Angst, dass der Potsdamer Rahmen vom Westen ohne Verhandlung abgebaut werde. Die Luftbrücke löste die akute Krise, nicht aber das Grundproblem: die Aufgabe eines einheitlichen, demilitarisierten Deutschlands.
Der entscheidende Bruch kam mit dem Ausbruch des Koreakriegs 1950. In Washington wurde der Konflikt nicht als regionaler Krieg mit spezifischen Ursachen interpretiert, sondern als Beleg eines monolithischen globalen kommunistischen Angriffs. Diese reduktionistische Deutung hatte tiefgreifende Folgen für Europa. Sie lieferte die politische Rechtfertigung für die Wiederbewaffnung Westdeutschlands – etwas, das nur wenige Jahre zuvor ausdrücklich ausgeschlossen worden war. Die Logik wurde nun in scharfen Begriffen formuliert: Ohne deutsche militärische Beteiligung könne Westeuropa nicht verteidigt werden.
Dieser Moment war ein Wendepunkt. Die Remilitarisierung Westdeutschlands wurde nicht durch sowjetisches Handeln in Europa erzwungen; sie war eine strategische Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten als Reaktion auf einen globalisierten Kalten-Krieg-Rahmen, den die USA konstruiert hatten. Großbritannien und Frankreich, trotz historischer Ängste vor deutscher Macht, gaben unter amerikanischem Druck nach. Als die Europäische Verteidigungsgemeinschaft – gedacht zur Kontrolle deutscher Wiederbewaffnung – scheiterte, wurde eine noch folgenreichere Lösung gewählt: der NATO-Beitritt Westdeutschlands 1955.
Aus sowjetischer Sicht bedeutete dies den endgültigen Zusammenbruch der Potsdamer Ordnung. Deutschland war nicht mehr neutral. Es war nicht mehr demilitarisiert. Es war nun in ein Militärbündnis eingebettet, das ausdrücklich gegen die UdSSR gerichtet war. Genau dieses Ergebnis hatten sowjetische Führungen seit 1945 verhindern wollen – und genau dazu war die Potsdamer Vereinbarung gedacht gewesen.
Entscheidend ist die Abfolge, die oft missverstanden oder umgekehrt dargestellt wird. Die Teilung und Wiederbewaffnung Deutschlands waren nicht das Ergebnis russischer Handlungen. Als Stalin 1952 ein Angebot zur deutschen Wiedervereinigung auf Grundlage der Neutralität machte, hatten die Westmächte Deutschland bereits auf den Pfad der Bündnisintegration und Wiederbewaffnung geführt. Die Stalin-Note war kein Versuch, ein neutrales Deutschland zu verhindern; sie war ein ernsthafter, dokumentierter und schließlich zurückgewiesener Versuch, einen bereits laufenden Prozess umzukehren.
In diesem Licht erscheint die frühe Ordnung des Kalten Krieges nicht als unvermeidliche Antwort auf sowjetische Unnachgiebigkeit, sondern als weiteres Beispiel dafür, dass Europa und die USA russische Sicherheitsbedenken der NATO-Architektur unterordneten. Deutschlands Neutralität wurde nicht verworfen, weil sie unpraktikabel war; sie wurde verworfen, weil sie einer westlichen strategischen Vision widersprach, die Blockkohäsion und US-Führung über eine inklusive europäische Sicherheitsordnung stellte.
Die Kosten dieser Entscheidung waren immens und dauerhaft. Die deutsche Teilung wurde zur zentralen Bruchlinie des Kalten Krieges. Europa wurde dauerhaft militarisiert, und Nuklearwaffen wurden auf dem Kontinent stationiert. Europäische Sicherheit wurde nach Washington ausgelagert – mit all der Abhängigkeit und dem Verlust strategischer Autonomie, die das mit sich bringt. Zudem wurde die sowjetische Überzeugung erneut bestärkt, dass der Westen Vereinbarungen umdeute, sobald es opportun sei.
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Dieser Kontext ist unverzichtbar, um die Stalin-Note 1952 zu verstehen. Sie war kein „Blitz aus heiterem Himmel“ und kein zynisches Manöver losgelöst von der Vorgeschichte. Sie war eine dringliche Reaktion auf eine Nachkriegsordnung, die bereits gebrochen war – ein weiterer Versuch, Frieden über Neutralität zu sichern, nur um dieses Angebot vom Westen zurückgewiesen zu sehen.
1952: Die Zurückweisung der deutschen Wiedervereinigung
Es lohnt sich, die Stalin-Note genauer zu betrachten. Stalins Aufruf zu einem wiedervereinigten und neutralen Deutschland war weder mehrdeutig noch zögerlich noch unaufrichtig. Wie Rolf Steininger in The German Question: The Stalin Note of 1952 and the Problem of Reunification (1990) überzeugend gezeigt hat, schlug Stalin eine Wiedervereinigung Deutschlands unter Bedingungen permanenter Neutralität, freier Wahlen, Abzug der Besatzungstruppen und eines Friedensvertrags vor, garantiert durch die Großmächte. Das war kein Propagandastück; es war ein strategisches Angebot, verwurzelt in einer echten sowjetischen Angst vor deutscher Wiederbewaffnung und NATO-Erweiterung.
Steiningers Archivforschung ist verheerend für das gängige westliche Narrativ. Besonders entscheidend ist das geheime Memorandum von 1955 von Sir Ivone Kirkpatrick, in dem er berichtet, der deutsche Botschafter habe eingeräumt, dass Kanzler Adenauer wusste, dass die Stalin-Note ernst gemeint war. Adenauer wies sie dennoch zurück. Er fürchtete nicht sowjetische Unredlichkeit, sondern deutsche Demokratie. Er sorgte sich, eine künftige deutsche Regierung könnte Neutralität und Aussöhnung mit Moskau wählen und damit Westdeutschlands Einbindung in den westlichen Block untergraben.
Im Kern wurden Frieden und Wiedervereinigung nicht zurückgewiesen, weil sie unmöglich gewesen wären, sondern weil sie für das westliche Bündnissystem politisch unbequem waren. Da Neutralität die entstehende NATO-Architektur bedrohte, musste sie als „Falle“ abgetan werden.
Europäische Eliten wurden nicht nur in atlantische Ausrichtung gedrängt; sie nahmen sie aktiv an. Adenauers Ablehnung deutscher Neutralität war kein isolierter Akt der Gefolgschaft gegenüber Washington, sondern spiegelte einen breiteren Konsens westlicher Eliten wider, die amerikanische Vormundschaft strategischer Autonomie und einem vereinten Europa vorzogen. Neutralität bedrohte nicht nur die NATO-Architektur, sondern auch die Nachkriegsordnung, in der diese Eliten Sicherheit, Legitimität und Wiederaufbau durch US-Führung bezogen. Ein neutrales Deutschland hätte verlangt, dass europäische Staaten direkt mit Moskau als Gleichrangige verhandeln, statt innerhalb eines US-geführten Rahmens zu operieren, der sie davor abschirmte. In diesem Sinne war Europas Zurückweisung der Neutralität auch eine Zurückweisung von Verantwortung: Atlantizismus bot Sicherheit ohne die Lasten diplomatischer Koexistenz mit Russland – selbst um den Preis dauerhafter Teilung und Militarisierung Europas.
Im März 1954 beantragte die Sowjetunion die Aufnahme in die NATO mit dem Argument, die NATO würde dadurch zu einer Institution europäischer kollektiver Sicherheit. Die USA und ihre Verbündeten wiesen den Antrag umgehend zurück mit der Begründung, dies würde das Bündnis verwässern und den NATO-Beitritt Deutschlands verhindern. Die USA und ihre Verbündeten, einschließlich Westdeutschlands selbst, lehnten damit erneut die Idee eines neutralen, demilitarisierten Deutschlands und eines europäischen Sicherheitssystems ab, das auf kollektiver Sicherheit statt auf Militärblöcken beruhte.
Der Österreichische Staatsvertrag von 1955 entlarvte zusätzlich die Zynik dieser Logik. Österreich akzeptierte Neutralität, sowjetische Truppen zogen ab, und das Land wurde stabil und wohlhabend. Die vorhergesagten geopolitischen „Dominoeffekte“ traten nicht ein. Das österreichische Modell zeigt, dass das, was dort
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erreicht wurde, auch in Deutschland möglich gewesen wäre – möglicherweise mit dem Effekt, den Kalten Krieg Jahrzehnte früher zu beenden. Der Unterschied zwischen Österreich und Deutschland lag nicht in der Machbarkeit, sondern in strategischen Präferenzen. Europa akzeptierte Neutralität in Österreich, wo sie die US-geführte Ordnung nicht bedrohte, lehnte sie aber in Deutschland ab, wo sie es tat.
Die Folgen dieser Entscheidungen waren immens und dauerhaft. Deutschland blieb fast vier Jahrzehnte geteilt. Der Kontinent wurde entlang einer Bruchlinie durch seine Mitte militarisiert, und Nuklearwaffen wurden auf europäischem Boden stationiert. Europas Sicherheit wurde abhängig von amerikanischer Macht und amerikanischen strategischen Prioritäten; Europa wurde erneut zum primären Schauplatz großmachtpolitischer Konfrontation statt zu einem unabhängigen Pol.
Bis 1955 war das Muster fest etabliert. Europa akzeptierte Frieden mit Russland nur dann, wenn er nahtlos zur US-geführten westlichen Architektur passte. Wenn Frieden echte Berücksichtigung russischer Kernanliegen erforderte – deutsche Neutralität, Blockfreiheit, Demilitarisierung oder gemeinsame Garantien –, wurde er systematisch zurückgewiesen. Die Folgen dieser Weigerung sollten sich in den folgenden Jahrzehnten entfalten.
Die 30-jährige Zurückweisung russischer Sicherheitsbedenken
Wenn es jemals einen Moment gab, in dem Europa seine lange Tradition hätte durchbrechen können, Frieden mit Russland zurückzuweisen, dann war es das Ende des Kalten Krieges. Anders als 1815, 1919 oder 1945 war dies kein Moment, der allein durch militärische Niederlage erzwungen wurde; es war ein Moment der Wahl. Die Sowjetunion brach nicht in einem Hagel aus Artillerie zusammen; sie zog sich zurück und rüstete einseitig ab. Unter Michail Gorbatschow verzichtete die Sowjetunion auf Gewalt als ordnendes Prinzip europäischer Politik. Sowohl die Sowjetunion als später auch Russland unter Boris Jelzin akzeptierten den Verlust militärischer Kontrolle über Mittel- und Osteuropa und schlugen einen neuen Sicherheitsrahmen vor, der auf Inklusion statt auf konkurrierenden Blöcken beruhte. Was folgte, war kein Mangel an russischer Vorstellungskraft, sondern ein Versagen Europas und des US-geführten atlantischen Systems, dieses Angebot ernst zu nehmen.
Gorbatschows Konzept eines „Gemeinsamen Europäischen Hauses“ war keine bloße rhetorische Floskel. Es war eine strategische Doktrin, begründet in der Erkenntnis, dass Nuklearwaffen traditionelle Machtbalancepolitik suizidal gemacht hatten. Gorbatschow stellte sich ein Europa vor, in dem Sicherheit unteilbar ist, in dem kein Staat seine Sicherheit auf Kosten eines anderen erhöht, und in dem die Bündnisstrukturen des Kalten Krieges schrittweise einer paneuropäischen Ordnung weichen. Seine Rede 1989 vor dem Europarat in Straßburg machte diese Vision ausdrücklich, indem sie Kooperation, gegenseitige Sicherheitsgarantien und den Verzicht auf Gewalt als politisches Instrument betonte. Die Charta von Paris für ein neues Europa, im November 1990 unterzeichnet, kodifizierte diese Prinzipien und verpflichtete Europa auf Demokratie, Menschenrechte und eine neue Ära kooperativer Sicherheit.
An diesem Punkt stand Europa vor einer Grundentscheidung. Es hätte diese Verpflichtungen ernst nehmen und eine Sicherheitsarchitektur um die OSZE aufbauen können, in der Russland gleichrangig mitwirkt – als Garant des Friedens statt als Objekt der Eindämmung. Alternativ hätte es die institutionelle Hierarchie des Kalten Krieges bewahren und zugleich postkaltekriegerische Ideale rhetorisch bejahen können. Europa wählte Letzteres.
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Die NATO löste sich nicht auf, verwandelte sich nicht in ein politisches Forum und ordnete sich keiner paneuropäischen Sicherheitsinstitution unter. Im Gegenteil: Sie expandierte. Öffentlich wurde dies defensiv begründet: NATO-Erweiterung stabilisiere Osteuropa, konsolidiere Demokratie und verhindere ein Sicherheitsvakuum. Diese Erklärung ignorierte jedoch einen entscheidenden Punkt, den Russland wiederholt artikulierte und den westliche Entscheidungsträger privat anerkannten: NATO-Expansion berührte Russlands Kernanliegen nicht abstrakt, sondern geografisch, historisch und psychologisch.
Die Kontroverse um Zusicherungen der USA und Deutschlands während der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung zeigt das tieferliegende Problem. Später betonten westliche Führungen, es seien keine rechtlich bindenden Versprechen zur NATO-Erweiterung gemacht worden, weil nichts schriftlich fixiert worden sei. Doch Diplomatie funktioniert nicht nur über unterzeichnete Verträge, sondern auch über Erwartungen, Verständigungen und guten Glauben. Freigegebene Dokumente und zeitgenössische Berichte bestätigen, dass sowjetischen Führern wiederholt gesagt wurde, die NATO werde sich nicht ostwärts über Deutschland hinaus ausdehnen. Diese Zusicherungen prägten die sowjetische Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung – eine Konzession von enormer strategischer Bedeutung. Als die NATO dennoch expandierte, zunächst auf amerikanischen Druck, erlebte Russland dies nicht als technische Rechtsfrage, sondern als tiefen Verrat an der Ordnung, die die Wiedervereinigung ermöglicht hatte.
Im Laufe der Zeit internalisierten europäische Regierungen NATO-Erweiterung zunehmend als europäisches Projekt und nicht nur als amerikanisches. Die deutsche Wiedervereinigung innerhalb der NATO wurde zum Vorbild statt zur Ausnahme. EU- und NATO-Erweiterung verliefen parallel, verstärkten sich gegenseitig und verdrängten alternative Sicherheitsarrangements wie Neutralität oder Blockfreiheit. Selbst Deutschland mit seiner Ostpolitik-Tradition und wachsenden wirtschaftlichen Verflechtungen mit Russland ordnete Politik der Einbindung zunehmend der Bündnislogik unter. Europäische Führungen rahmten Expansion als moralisches Gebot statt als strategische Entscheidung, wodurch sie sich der Prüfung entzog und russische Einwände als illegitim erscheinen ließ. Damit gab Europa einen großen Teil seiner Fähigkeit auf, als unabhängiger Sicherheitsakteur zu handeln, und band sein Schicksal noch enger an eine atlantische Strategie, die Expansion über Stabilität und moralisches Signalisieren über dauerhafte Einigung stellte.
Hier wird Europas Versagen am deutlichsten. Statt anzuerkennen, dass NATO-Expansion der Logik unteilbarer Sicherheit der Charta von Paris widersprach, behandelten europäische Führungen russische Einwände als illegitim – als Reste imperialer Nostalgie statt als Ausdruck realer Sicherheitsangst. Russland durfte konsultieren, aber nicht mitentscheiden. Die NATO–Russland-Grundakte von 1997 institutionalisierte diese Asymmetrie: Dialog ohne russisches Vetorecht, Partnerschaft ohne russische Gleichrangigkeit. Europas Sicherheitsarchitektur wurde um Russland herum und trotz Russland gebaut, nicht mit Russland.
George Kennans Warnung von 1997, NATO-Erweiterung sei ein „verhängnisvoller Fehler“, erfasste das strategische Risiko mit bemerkenswerter Klarheit. Kennan behauptete nicht, Russland sei tugendhaft; er argumentierte, dass die Demütigung und Marginalisierung einer Großmacht in einem Moment der Schwäche Ressentiment, Revanchismus und Militarisierung erzeugen werde. Seine Warnung wurde als veralteter Realismus abgetan, doch die spätere Geschichte hat seine Logik nahezu Punkt für Punkt bestätigt.
Die ideologische Grundlage dieser Zurückweisung findet sich ausdrücklich in den Schriften Zbigniew Brzezinskis. In The Grand Chessboard (1997) und in seinem Foreign Affairs-Essay „A Geostrategy for Eurasia“ (1997) formulierte Brzezinski eine Vision amerikanischer Primatstellung, die auf Kontrolle über Eurasien beruhe. Er argumentierte, Eurasien sei der „axiale Superkontinent“, und US-Weltdominanz hänge davon ab, das Entstehen einer Macht zu verhindern, die ihn dominieren könne. In diesem Rahmen war die Ukraine
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nicht nur ein souveräner Staat mit eigener Entwicklung; sie war ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt. „Ohne die Ukraine“, schrieb Brzezinski berühmt, „hört Russland auf, ein Imperium zu sein.“
Das war keine akademische Randbemerkung; es war eine programmatische Aussage US-imperialer Großstrategie. In einer solchen Weltsicht sind russische Sicherheitsbedenken keine legitimen Interessen, die im Namen des Friedens zu berücksichtigen wären; sie sind Hindernisse, die im Namen US-amerikanischer Primatstellung zu überwinden seien. Europa, tief im atlantischen System verankert und abhängig von US-Sicherheitsgarantien, übernahm diese Logik – oft ohne ihre vollen Implikationen zu benennen. Das Ergebnis war eine europäische Sicherheitspolitik, die Bündnisexpansion konsequent über Stabilität stellte und moralisches Signalisieren über dauerhafte Einigung.
Die Folgen wurden 2008 unübersehbar. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest erklärte das Bündnis, die Ukraine und Georgien „werden Mitglieder der NATO werden“. Diese Aussage enthielt keinen konkreten Zeitplan, doch ihre politische Bedeutung war unmissverständlich. Sie überschritt, was russische Offizielle über das gesamte politische Spektrum hinweg als rote Linie bezeichnet hatten. Dass dies im Voraus bekannt war, steht außer Zweifel. William Burns, damals US-Botschafter in Moskau, berichtete in einem Telegramm mit dem Titel „NYET MEANS NYET“, dass ukrainische NATO-Mitgliedschaft in Russland als existenzielle Bedrohung wahrgenommen werde, die Liberale, Nationalisten und Hardliner gleichermaßen vereine. Die Warnung war explizit. Sie wurde ignoriert.
Aus russischer Sicht war das Muster nun eindeutig. Europa und die USA beriefen sich auf Regeln und Souveränität, wenn es ihnen passte, wiesen aber Russlands Kernanliegen als illegitim zurück. Die Lehre, die Russland daraus zog, war dieselbe wie nach dem Krimkrieg, nach den Interventionen, nach dem Scheitern kollektiver Sicherheit und nach der Zurückweisung der Stalin-Note: Frieden würde nur zu Bedingungen angeboten, die westliche strategische Dominanz bewahrten.
Die 2014 in der Ukraine ausbrechende Krise war daher keine Abweichung, sondern eine Zuspitzung. Der Maidan-Aufstand, der Sturz der Janukowytsch-Regierung, Russlands Annexion der Krim und der Krieg im Donbas entfalteten sich innerhalb einer Sicherheitsarchitektur, die bereits bis zum Zerreißen belastet war. Die USA ermutigten den Umsturz, der Janukowytsch stürzte, aktiv und planten im Hintergrund sogar hinsichtlich der Zusammensetzung der neuen Regierung. Als die Donbas-Region sich gegen den Maidan-Umsturz erhob, reagierte Europa mit Sanktionen und diplomatischer Verurteilung und rahmte den Konflikt als simples Moralstück. Doch auch zu diesem Zeitpunkt war eine verhandelte Lösung möglich. Die Minsker Abkommen, insbesondere Minsk II 2015, boten einen Rahmen zur Deeskalation: Autonomie für den Donbas und eine Reintegration der Ukraine und Russlands in eine erweiterte europäische Wirtschaftsordnung.
Minsk II war – wenn auch widerwillig – eine Anerkennung, dass Frieden Kompromiss erfordert und dass die Stabilität der Ukraine davon abhängt, sowohl interne Spaltungen als auch externe Sicherheitsbedenken zu adressieren. Was Minsk II letztlich zerstörte, war westlicher Widerstand. Als westliche Führungen später andeuteten, Minsk II habe vor allem dazu gedient, „Zeit zu kaufen“, damit die Ukraine militärisch stärker werde, war der strategische Schaden gravierend. Aus Moskauer Sicht bestätigte dies den Verdacht, westliche Diplomatie sei zynisch und instrumentell statt ehrlich – dass Vereinbarungen nicht umgesetzt, sondern nur als Fassade genutzt würden.
Bis 2021 war Europas Sicherheitsarchitektur unhaltbar geworden. Russland legte Entwürfe vor, die Verhandlungen über NATO-Erweiterung, Raketenstationierungen und Militärübungen forderten – genau die Themen, vor denen es seit Jahrzehnten warnte. Diese Vorschläge wurden von den USA und der NATO brüsk
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zurückgewiesen. NATO-Erweiterung wurde als nicht verhandelbar erklärt. Wieder einmal verweigerten Europa und die USA, Russlands Kernanliegen als legitime Verhandlungsthemen zu behandeln. Es folgte Krieg.
Als russische Kräfte im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierten, bezeichnete Europa die Invasion als „unprovoziert“. Diese absurde Beschreibung mag propagandistisch nützlich sein, verschleiert aber die Geschichte vollständig. Russlands Handeln entstand nicht im Vakuum. Es entstand aus einer Sicherheitsordnung, die Russlands Anliegen systematisch nicht integrierte, und aus einem diplomatischen Prozess, der Verhandlungen über gerade die Fragen ausschloss, die Russland am wichtigsten waren.
Selbst dann war Frieden nicht unmöglich. Im März und April 2022 führten Russland und die Ukraine Verhandlungen in Istanbul, die einen detaillierten Entwurfsrahmen hervorbrachten. Die Ukraine schlug dauerhafte Neutralität mit internationalen Sicherheitsgarantien vor; Russland akzeptierte das Prinzip. Der Rahmen regelte Begrenzungen von Streitkräften, Garantien und einen längeren Prozess für territoriale Fragen. Das waren keine Fantasiedokumente. Es waren ernsthafte Entwürfe, die die Realitäten des Schlachtfelds und die strukturellen Zwänge der Geografie widerspiegelten.
Doch die Gespräche in Istanbul brachen zusammen, als die USA und das Vereinigte Königreich intervenierten und der Ukraine sagten, sie solle nicht unterschreiben. Wie Boris Johnson später erklärte, stehe nicht weniger als westliche Hegemonie auf dem Spiel. Der Zusammenbruch des Istanbul-Prozesses zeigt konkret: Frieden in der Ukraine war kurz nach Beginn der russischen „Spezialmilitäroperation“ möglich. Die Vereinbarung war ausgearbeitet und nahezu abgeschlossen, wurde jedoch auf Betreiben der USA und des Vereinigten Königreichs aufgegeben.
Bis 2025 wurde die bittere Ironie sichtbar. Derselbe Istanbuler Rahmen tauchte in erneuten diplomatischen Bemühungen als Referenzpunkt wieder auf. Nach enormem Blutvergießen kreiste die Diplomatie zurück zu plausiblen Kompromissen. Das ist ein vertrautes Muster in Kriegen, die durch Sicherheitsdilemmata geprägt sind: frühe Einigungen, die als verfrüht abgelehnt werden, erscheinen später als tragische Notwendigkeiten. Dennoch widersetzt sich Europa auch jetzt einem verhandelten Frieden.
Für Europa sind die Kosten dieser langen Weigerung, Russlands Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen, inzwischen unvermeidbar und massiv. Europa hat schwere wirtschaftliche Verluste durch Energieunterbrechungen und Deindustrialisierungsdruck getragen. Es hat sich langfristig zur Wiederaufrüstung verpflichtet – mit tiefgreifenden fiskalischen, sozialen und politischen Folgen. Der politische Zusammenhalt innerhalb europäischer Gesellschaften ist unter dem Druck von Inflation, Migrationsbelastungen, Kriegsmüdigkeit und divergierenden Positionen zwischen Regierungen stark erodiert. Europas strategische Autonomie hat abgenommen, da Europa erneut primäres Feld der Großmachtkonfrontation wird statt ein unabhängiger Pol.
Am gefährlichsten ist vielleicht, dass nukleares Risiko wieder ins Zentrum europäischer Sicherheitskalküle gerückt ist. Erstmals seit dem Kalten Krieg leben europäische Öffentlichkeiten erneut unter dem Schatten potenzieller Eskalation zwischen nuklear bewaffneten Mächten. Dies ist nicht nur das Ergebnis moralischen Versagens. Es ist das Ergebnis der strukturellen Weigerung des Westens, die bis in Pogodins Zeit zurückreicht, anzuerkennen, dass Frieden in Europa nicht durch die Leugnung russischer Sicherheitsbedenken gebaut werden kann. Frieden kann nur gebaut werden, indem man sie verhandelt.
Die Tragödie von Europas Leugnung russischer Sicherheitsbedenken ist, dass sie sich selbst verstärkt. Wenn russische Sicherheitsbedenken als illegitim abgetan werden, haben russische Führungen weniger Anreize zur Diplomatie und mehr Anreize, Fakten vor Ort zu schaffen. Europäische Entscheidungsträger interpretieren
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diese Handlungen dann als Bestätigung ihrer ursprünglichen Verdächtigungen, statt als vorhersehbares Ergebnis eines Sicherheitsdilemmas, das sie selbst geschaffen und dann geleugnet haben. Mit der Zeit verengt diese Dynamik den diplomatischen Spielraum, bis Krieg vielen nicht mehr als Wahl, sondern als Unvermeidlichkeit erscheint. Doch diese Unvermeidlichkeit ist gemacht. Sie entsteht nicht aus unveränderlichem Hass, sondern aus der beharrlichen europäischen Weigerung, anzuerkennen, dass dauerhafter Frieden die Anerkennung der Ängste der anderen Seite als real erfordert – selbst wenn diese Ängste unbequem sind.
Die Tragödie ist, dass Europa für diese Weigerung wiederholt schwer bezahlt hat: im Krimkrieg und seinen Folgen, in den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in Jahrzehnten kalterkriegerischer Teilung. Und es bezahlt erneut. Russophobie hat Europa nicht sicherer gemacht. Sie hat Europa ärmer, gespaltener, militarisierter und abhängiger von externer Macht gemacht.
Die zusätzliche Ironie ist, dass diese strukturelle Russophobie Russland langfristig nicht geschwächt hat, Europa jedoch wiederholt geschwächt hat. Indem Europa sich weigert, Russland als normalen Sicherheitsakteur zu behandeln, hat es geholfen, genau die Instabilität zu erzeugen, die es fürchtet, und dabei wachsende Kosten an Blut, Geld, Autonomie und Zusammenhalt in Kauf genommen. Jeder Zyklus endet gleich: mit einer verspäteten Erkenntnis, dass Frieden Verhandlungen erfordert – nachdem bereits enormer Schaden angerichtet wurde. Die Lehre, die Europa bislang nicht verinnerlicht hat, lautet: Russlands Sicherheitsbedenken anzuerkennen ist keine Konzession an Macht, sondern Voraussetzung, um deren zerstörerische Nutzung zu verhindern.
Die Lehre, in Blut über zwei Jahrhunderte geschrieben, ist nicht, dass Russland oder irgendeinem anderen Land in jeder Hinsicht zu vertrauen sei. Sie ist, dass Russland und seine Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen sind. Europa hat den Frieden mit Russland wiederholt zurückgewiesen, nicht weil er nicht verfügbar gewesen wäre, sondern weil die Anerkennung russischer Sicherheitsbedenken fälschlich als illegitim galt. Solange Europa diesen Reflex nicht aufgibt, wird es in einem Kreislauf selbstschädigender Konfrontation gefangen bleiben – Frieden zurückweisen, wenn er möglich ist, und die Kosten noch lange danach tragen.
Wenn du möchtest, kann ich dir zusätzlich eine gekürzte deutsche Zusammenfassung (z. B. 1 Seite) oder eine glossarartige Erklärung zentraler Begriffe (Sicherheitsdilemma, Konzert Europas, Stalin-Note, OSZE/Charta von Paris etc.) erstellen.
Jeffrey D. Sachs | 22. Dezember 2025 | Horizons, Winter 2026 (erscheint demnächst)
Übersetzung mit ChatGPT
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