Der ‚Bolero‘ von Krieg und Propaganda, von Achim…

Der ‚Bolero‘ von Krieg und Propaganda

Roger Money-Kyrle’s Beitrag zum Verständnis gegenwärtiger Konflikte

Heinz Weiß 

Zusammenfassung: Bezugnehmend auf die aktuellen kriegerischen Konflikte fasst der Beitrag die wichtigsten Ergebnisse der psychoanalytischen Untersuchungen Roger Money-Kyrles zur Entstehung autoritärer und faschistischer Strukturen zwischen den Jahren 1934 und 1951 zusammen. Hierzu gehören seine Überlegungen zu den psychologischen Kriegsursachen, die Analyse der faschistischen Propaganda sowie seine Beschreibung der Persönlichkeitskonstellationen, die er unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bei seinen Interviews im Auftrag der Britischen Kontrollkommission in Deutschland vorfand. Die Aktualität und Relevanz seiner Studien wird am Beispiel des Agitationsstiles der heutigen populistischen Rechten sowie am Beispiel der aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza aufgezeigt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

Ich möchte heute über einige Überlegungen des Psychoanalytikers und Philosophen Roger Money-Kyrle zur Psychologie von Krieg und Propaganda berichten, die heute, nach über 80 Jahren so aktuell wirken, als wären sie für unsere Zeit geschrieben. Diesen Eindruck hatten Claudia Frank und ich, als wir die ‚Ausgewählten Schriften‘ Roger Money-Kyrles in deutscher Sprache, zusammen mit umfangreichen Einführungen und Erläuterungen zu seinem Leben und Werk, herausgaben. Von diesen ‚Ausgewählten Schriften‘ sind bisher 3 Bände erschienen, der vierte steht unmittelbar vor dem Abschluss.

Warum Roger Money-Kyrle, werden Sie fragen. Es hat ja auch andere britische Psychoanalytiker gegeben, die unmittelbar in die Kriegsgeschehnisse des ersten und zweiten Weltkriegs involviert waren und wichtige Beiträge leisteten. Ich erwähne als Beispiele nur Donald Winnicott, der im Ersten Weltkrieg als Sanitätsoffizier auf einem Zerstörer arbeitete, Wilfred Bion, der seine Kriegserfahrungen literarisch aufgearbeitet hat, John Rickman, der bereits in die Unruhen des postrevolutionären Russland involviert war, oder Anna Freud, die die Kinder verfolgter deutscher jüdischer Mitbürger in London betreute.

Die Besonderheit bei Roger Money-Kyrle liegt darin, dass er seine Erfahrungen und sozialanthropologischen Analysen systematisch aufarbeitet hat und diese mit seinen in vielerlei Hinsicht ganz eigenständigen Ideen verband, für die ab 1936 die persönliche Analyse bei seiner dritten Analytikerin Melanie Klein sowie seine nach dem Zweiten Weltkrieg wachsenden klinischen Erfahrungen bedeutsam wurden.

In meinem heutigen Beitrag werde ich mich also auf seine Analyse zu den psychologischen Kriegsursachen, seine Betrachtungen zur Funktion der Propaganda sowie seine Überlegungen zur humanistischen, autoritären und faschistischen Persönlichkeit konzentrieren, die er aus seinen Untersuchungen mit Bewerbern für verantwortungsvolle Posten im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland gewann. Unter den Bezügen zum aktuellen Kriegsgeschehen werde ich mich vorwiegend auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine beziehen. Aber ich werde an einigen Stellen auch Bezüge zum aktuellen Kriegsgeschehen in Israel und Palästina herstellen und auf die Propaganda der populistischen Rechten eingehen.

Zunächst ist es vielleicht hilfreich, einige Bemerkungen zur Person Roger Money-Kyrle voranzustellen. 

Roger Money-Kyrle

Roger Money-Kyrle (1898-1980) ist ein Philosoph und Psychoanalytiker, dessen Analysen und Entdeckungen – das habe ich bereits angedeutet – ihrer Zeit z.T. so weit voraus waren, dass sie fast schon wieder vergessen schienen, als andere Analytiker 30 oder 40 Jahre später auf ähnliche Phänomene stießen.

 

Er wurde 1898 in Herfordshire nordwestlich von London als zweiter Sohn einer sehr alten aristokratischen Familie geboren und wuchs auf dem Landgut der Familie in Whetham auf. Eine sehr untypische Herkunft also für einen britischen Psychoanalytiker. Nach dem frühen Tod seines Vaters und seiner Ausbildung am Eton College nahm er im jungen Alter von 18 Jahren als Kampfpilot des Royal Flying Corps am Ersten Weltkrieg teil und überlebte den Abschuss seines Flugzeuges durch ein Mitglied der deutschen Richthofen-Staffel (wahrscheinlich durch Hermann Goering selbst). Nach dem Besuch des Trinity College an der Universität Cambridge und einer ersten Analyse bei Ernest Jones ging er Anfang der 1920er Jahre nach Wien, wo er bei Moritz Schlick, dem Begründer des Wiener Kreises des logischen Empirismus, seine erste philosophische Dissertation mit dem Titel ,Beiträge zur Wirklichkeits-lehre‘ (1925) abschloss.

 

Roger Money-Kyrle ist einer der ganz wenigen Analytiker, die sowohl bei Ernest Jones als auch bei Sigmund Freud und Melanie Klein in Analyse waren. Nach seiner zweiten philosophischen Dissertation ‚The Nature of Sacrifice‘ (1928) bei John Flügel am University College in London beschäftigte er sich schon frühzeitig nicht nur mit philosophischen und psychoanalytischen, sondern auch mit sozialanthropologischen und gesellschaftlichen Themen (Money-Kyrle 1932; 1939; 1951b; 1961). Die erste Phase seiner Theorieentwicklung fiel dabei in eine Zeit, die durch zwei verheerende Weltkriege und die faschistische Transformation eines Teils der europäischen Gesellschaft geprägt war.

 

1932 war er noch einmal in Deutschland und konnte hier mit Hilfe seines Freundes Arthur Yencken, einem Australier, der damals an der britischen Botschaft in Berlin arbeitete, an einer Propagandaveranstaltung teilnehmen, bei der Adolf Hitler und Joseph Goebbels als Hauptredner auftraten. Ab 1936 arbeitete er in London im Luftfahrtministerium, während er gleichzeitig bei Melanie Klein in Analyse war. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er in eine Projektgruppe der Britischen Kontrollkommission (German Personnel Research Branch) berufen, die herausfinden sollte, welche Individuen beim Wiederaufbau einer demokratischen Gesellschaft in Deutschland Verantwortung übernehmen könnten. Seine darauf beruhende Beschreibung verschiedener Persönlichkeitsstrukturen ist nicht nur ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument, sondern auch eine grundlegende Analyse der humanistischen, autoritären und faschistischen Persönlichkeit (Money-Kyrle 1951a).

 

Ich werde mich in meinem Beitrag auf Money-Kyrles Arbeiten zur Untersuchung psychologischer Kriegsursachen von 1934 und 1937, auf seine Analyse der faschistischen Propaganda (Money-Kyrle 1941) sowie auf die Beschreibung der Persönlichkeitsstrukturen eingehen, die er unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegsin seinen Interviews in Deutschland vorfand (Money-Kyrle 1951a).

Es ist bemerkenswert, dass die meisten dieser Arbeiten lange Zeit weder ins Deutsche übersetzt, noch im deutschen Sprachraum breiter rezipiert wurden. Unter anderem, um diese Lücke zu schließen, hatten wir uns  zur Herausgabe seiner ‚Ausgewählten Schriften‘ in deutscher Sprache (Weiß, Frank 2022-2025) entschieden.

 

Im Gegensatz zu den Faschismusstudien, die Adorno (1951a;b) und andere etwa zur gleichen Zeit mit freiwilligen Probanden in den USA durchführten, untersuchte Money-Kyrle eine Population, die unmittelbar nach dem Krieg mit dem Desaster von Niederlage und Schuld konfrontiert war. Und anders als Adorno war Money-Kyrle  Psychoanalytiker, dem die Mechanismen von Spaltung, Projektion, omnipotenter Verleugnung und manischer Abwehr unmittelbar aus der klinischen Erfahrung vertraut waren. Umso erstaunlicher ist es, dass seine grundlegenden Arbeiten, soweit mir das bekannt ist, von der „Frankfurter Schule“ überhaupt nicht rezipiert wurden. Hier gibt es also einen ‚blinden Fleck‘ 

Zu den psychologischen Ursachen des Krieges

 

Ich beginne mit Money-Kyrles Ausführungen zu den psychologischen Kriegsursachen, die er 1934 in einer Sendereihe der BBC zusammen mit solch‘ namhaften Rednern wie Austen Chamberlain, Winston Churchill oder Aldous Huxley präsentierte. Zwei Jahre später, 1936, hielt er anlässlich eines Treffens der Anthropological Society an der Universität Oxford einen Vortrag über Entwicklung des Krieges, der 1937 unter dem Titel ‚The Development of War‘ im ‚British Medical Journal‘ veröffentlicht wurde.

Erstmals nimmt Money-Kyrle in seinem Aufsatz von 1934 auf Melanie Kleins neue Erkenntnisse zur unbewussten menschlichen Destruktivität Bezug, die umso gefährlicher sei, je weniger wir sie uns eingestehen. Letztlich, so Money Kyrle, verhielten wir uns „wie Leute, die mit Dynamit in den Hosentaschen herumlaufen, ohne es zu wissen.“ (1934, S. 132)

Werde diese Destruktivität abgespalten und projiziert, entwickle sich ein charakteristisches Bedrohungsgefühl, das durch Gruppenprozesse noch weiter aufgeheizt und verstärkt werde. Dadurch entsteht eine toxische Spirale, die die eigene Gewaltbereitschaft noch weiter verstärkt.

Money-Kyrle untersucht hier vor dem Hintergrund der faschistischen Machtergreifung jene Mechanismen und Stimmungen, die zu dem von ihm als ‚Kriegsfieber‘ beschriebenen Zustand führen. Er vermittelt einen Eindruck davon, wie die Projektion von Feindseligkeit zunächst zu einem Bedrohungsgefühl durch den Nachbarn führt. Mit dem Begriff der ‚nationalen Paranoia‘ beschreibt er das Phänomen, dass sich spätere Kriegsgegner zunächst oft wie Paranoiker verhalten, deren Schutzmaßnahmen die Befürchtungen des jeweils anderen bestätigen.

Dabei kommt Money-Kyrle (1934, S. 133) auch auf die Rolle klaustrophober Ängste zu sprechen, die Angst eingeschlossen und eingekreist zu werden, wie wir sie gegenwärtig sowohl im Ukraine-Krieg als auch im Israel-Palästina-Konflikt erleben: Russland fühlte sich durch die Ausdehnung der Nato eingekreist, die Ukraine durch die völkerrechtswidrige Annexion eigener Gebiete. Israel fühlte sich durch seine arabischen Nachbarn und terroristische Organisationen bedroht, die Palästinenser durch die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik und die Annexion arabischer Gebiete. Solche Prozesse verstärken nicht nur das Bedrohungsgefühl, sondern auch die eigene Bereitschaft, mit Gewalt zu reagieren. Wie sich insbesondere am Israel-Palästina-Konflikt zeigen lässt, entsteht dann eine Konstellation, in der jeweilige ‚Feind‘ gebraucht wird, um in ihn das absolut Böse zu projizieren und die eigene Gewalt zu legitimieren.

Gegen das Bedrohungsgefühl, das im Vorfeld von Kriegen entsteht,  werden dann manische und omnipotente Mechanismen ins Spiel gebracht, die durch die jeweilige Propaganda verstärkt werden. Im Hochgefühl des ‚Kriegsfiebers‘ kommen schließlich erregte Momente hinzu, die den offenen Ausbruch von Gewalt begünstigen, und zwar vor allem dann, wenn durch Gruppenprozesse normale Über-Ich-Funktionen ausgeschaltet werden. Die Kriegsbereitschaft resultiert aus der Sicht Money-Kyrles also vor allem aus der manischen Abwehr paranoider Gefühle.

 

In dem Vortrag, den er 1936 an der Universität Oxford hielt, illustriert er diesen Vorgang am Beispiel eines kleinen Jungen:

Dieser hatte panische Angst vor einem imaginären Löwen entwickelt, den er in einem Baumstumpf vermutete. Zunächst traut er sich nicht, sich dem gefährlichen Objekt, das seine eigene bedrohliche Aggressivität enthält, zu nähern. Dann aber wird er selbst zum Löwen und nähert sich mit lautem Gebrüll dem feindlichen Tier. Das damit einhergehende Hochgefühl kennzeichnet die manische Abwehr. Ähnliche Prozesse spielen sich zwischen verfeindeten Nationen ab und jeder Angriff macht die Furcht noch wirklicher.

 

Auch wenn die in Money-Kyrles damaligem Vortrag geäußerte Vermutung, dass es unter den höher entwickelten Lebewesen keine Parallelen zu den menschlichen Kriegen gebe, aufgrund neuerer ethnologischer Erkenntnisse zu Stammeskriegen unter Primaten (Goodall 1986; Watts 2012) modifiziert werden muss, so sind seine Erkenntnisse über die Regression des Denkens und die Rückkehr zu primitiven, konkretistischen Teilobjekt-Beziehungen doch von grundlegender Bedeutung.

Für die menschliche Entwicklung, so seine Argumentation, ist die Ausdifferenzierung einer inneren Objektwelt, der Aufbau eines Über-Ich sowie der Übergang vom konkreten, animistischen Denken zur Symbolverwendung bedeutsam. Anders als Tiere, so Money-Kyrle, werde der Mensch von guten und bösen Geistern – d.h. von inneren Objekten, die aus Spaltungs- Projektions- und Introjektionsvorgängen hervorgehen -beherrscht, die in primitiven Gemeinschaften in Steine, Bäume oder Naturereignisse verlagert und durch magische Rituale gebannt werden müssen. Teilobjekte werden mit Kriegstrophäen wie Zähnen, Köpfen oder Beuteobjekten gleichsetzt. Opfergaben sollen Rache verhindern oder die Götter beschwichtigen. In entwickelteren Gesellschaften treten territoriale, wirtschaftliche oder Machtmotive an deren Stelle. Mit fortschreitender Zivilisation stehen schließlich moralische Gründe und Rechtfertigungen im Vordergrund. Der Mensch unterscheide sich vom Tier vor allem dadurch, dass er ein Gewissen aufbaue, ein Idealbild seiner Eltern entwickle, in dem bestimmte verinnerlichte Normen und Verbote wirksam werden.

Aber gerade diese Über-Ich-Entwicklung ist anfällig für Verzerrungen. Sie prägen nicht nur die Vorstellung des eigenen Selbst, sondern auch unsere gesellschaftlichen Überzeugungen, unsere Vorurteile und unsere Sicht des „Fremden“. Money-Kyrle kann hier auf seine frühen Untersuchungen zur Moralentwicklung und zum Opferkult Bezug nehmen (Money-Kyrle 1930; 1932b; 1933). Aus seiner Sicht ist Krieg weit mehr als eine verzerrte Form der Kämpfe unter Tieren. Er ist das „Endprodukt eines psychotischen Prozesses“.

Money-Kyrle hatte diese Überlegungen erstmals 1936 vor der Anthropologischen Gesellschaft der Universität Oxford vorgetragen, was die zahlreichen ethnologischen und entwicklungsgeschichtlichen Verweise in seinem Aufsatz verständlich macht. Er zeigt, welchen wichtigen Beitrag die sich entwickelnde psychoanalytische Theorie für das Verständnis kriegerischer Konflikte leisten könne. Und er fügt in einem bedeutsamen Nachwort zu seiner Arbeit aus dem Jahr 1934 hinzu, dass Krieg auch aus dem Zusammenbruch reparativer Mechanismen resultiert, die unter normalen Bedingungen die Aufrechterhaltung des Friedens sicherstellen. Wenn wir nach den Bedingungen fragen, die zur Entstehung von Kriegen führen, müssen wir also auch das Scheitern und Entgleiten jener Mechanismen verstehen, die unter normalen Bedingungen Wiedergutmachung und ein friedliches Austragen von Differenzen ermöglichen.

Für die Entstehung von Kriegen sind aus seiner Sicht also vier Prozesse ausschlaggebend:

  • Die Projektion eigener Destruktivität in die Nachbarn oder ‚Fremden‘, aus der ein charakteristisches Bedrohungsgefühl entsteht.

 

  • Die Abwehr dieses Bedrohungsgefühls mittels manischer und omnipotenter Mechanismen

 

  • Die Ausschaltung normaler Über-Ich-Funktionen und die Regression in Gruppenprozessen unter dem Einfluss von Propaganda
  • sowie der Zusammenbruch von Wiedergutmachungsprozessen, die andere Formen der Auseinandersetzung und Konfliktlösung ermöglichen könnten.

 

 

Die Psychologie der Propaganda

 

Ich komme nun auf meinen zweiten Punkt, die Psychologie der Propaganda, zu sprechen und werde mich hier auf jene Überlegungen beschränken, die Money-Kyrle zu den Mechanismen der faschistischen Propaganda und deren Wirkungen auf die elektrisierte Masse anstellte.

Ausgangspunkt seiner Beobachtungen sind die Reden Goebbels‘ und Hitlers, denen er 1932, kurz vor Hitlers Machtergreifung, anlässlich einer Propagandaveranstaltung beiwohnen konnte. Ein befreundeter Diplomat der Britischen Botschaft, Arthur Yencken, hatte ihm, wie bereits erwähnt, diese Möglichkeit vermittelt. Yencken, ein Australier im britischen diplomatischen Dienst, wurde während seiner Tätigkeit in Berlin (1928-1932) zum Ersten Sekretär ernannt und war ab 1940 bevollmächtigter Minister an der britischen Botschaft in Madrid.

 

In seiner Arbeit beschreibt Money-Kyrle (1941) die Sequenz der beiden Reden Goebbels‘ und Hitlers als einen „Bolero“, der die Masse zunehmend in Ekstase versetzt. Interessanterweise konzentriert er sich dabei nicht nur auf die Rhetorik und Argumentation der beiden Redner, sondern auf deren Interaktion mit einer Zuhörerschaft, die auf die Melodik der Propaganda reagiert. Deshalb seine Rede von einem „Bolero“.

Die elektrisierte Masse vergleicht er mit einem „pleistozänischen Monster“, das sein Denkvermögen und seine Urteilskraft weitgehend aufgegeben hat und nur noch von einigen wenigen, gewaltsamen Leidenschaften beherrscht wird. Dabei erfolgt die Aufgabe bzw. Manipulation des Denkens in einer charakteristischen Reihe von Schritten:

 

Zunächst wird das ‚Monster‘ dazu eingeladen, in Selbstmitleid über den elenden Zustand zu versinken, in den sein Land, in diesem Fall Deutschland, geraten war. In einem zweiten Schritt werden dann die äußeren und inneren Feinde (Juden, Sozialdemokraten) benannt, die an diesem Zustand die Schuld tragen. Dann wird der Hass auf diese ‚Feinde‘ geschürt und der Aufstieg der nationalsozialistischen Partei geschildert. Das ‚Monster‘ wird sich seiner Größe bewusst und durch den Glauben an seine Allmacht vergiftet. Als nächstes erfolgt Hitlers Aufruf an alle Deutschen, sich zu vereinen. Das ‚Monster‘ wird nun auf eine fast masochistische Weise sentimental. Und nach einem kurzen, todesähnlichen Schweigen erfolgt der pathetische Aufruf, Deutschland müsse leben, selbst wenn viele dafür sterben müssten. Und auf ein Wort des Führers hin, war man bereit, dieses ultimative Opfer zu erbringen.

 

Die Beschreibung dieser Sequenz enthält im Kern Money-Kyrles Theorie der Propaganda:

  • In einem ersten Schritt erfolgt eine paranoide Abwehr depressiver Gefühle – für das innere Elend werden äußere Feinde verantwortlich gemacht.
  • In einer zweiten Phase wird der Hass auf diese Feinde geschürt und durch manische Erregung die Hilflosigkeit in Allmacht verwandelt.

 Um den mörderischen Hass zu rechtfertigen, müssen jedoch in einem dritten Schritt normale Gewissensfunktionen ausgeschaltet werden: Die Vernichtung der Feinde wird gewissermaßen zur moralischen Pflicht, um einen paradiesischen Zustand zu erreichen.

Es ist diese Usurpation des Über-Ich durch ein megalomanes Ich, das Money-Kyrle bis hin zu seiner Arbeit ‚Megalomania‘ aus dem Jahr 1965 (Money-Kyrle 1965) immer wieder beschäftigen wird. Und zum ersten Mal benennt er im vorliegenden Aufsatz auch die Persönlichkeitsmerkmale, die das Indidividuum für diese Art von Propaganda empfänglich machen, als ‚borderland-psychotic‘. Diese auf Projektion, Spaltung und manischer Allmacht beruhende Verdrehung der Wahrnehmung der inneren und äußeren Wirklichkeit unterscheidet sich von der klassischen ‚autoritären Persönlichkeit‘. Sie ist toxischer, manipulativer und gefährlicher, worauf er in seiner Untersuchung ‚State and Character in Germany‘ (Money-Kyrle 1951) noch zurückkommen wird.

Es ist frappierend und zugleich erschreckend, dass die von Money-Kyrle beschriebenen Mechanismen auch in der Gegenwart eine zentrale Rolle spielen: Ein unsichtbarer innerer Feind – wie z.B. das Coronavirus – wird nach außen projiziert und jetzt sind es die äußeren Feinde, die uns damit infiziert haben: die Chinesen, die das Virus in ihren Forschungslabors entwickelt haben, mächtige Männer, wie Bill Gates, die uns Chips einpflanzen, unsere Identität (den Bauplan unserer DNS) verändern und uns unbegrenzt überwachen wollen. Gegen solche Feinde vorzugehen, sie zu hassen und anzugreifen, ist nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar moralische Pflicht, und zwar um die „Freiheit“ und die „Bürgerrechte“ zu schützen.

Ganz ähnlich die Argumentation der aktuellen populistischen Rechten: Am Niedergang Deutschlands sind die vielen Geflüchteten schuld und diejenigen, die ihnen Asyl gewähren; die pluralistische Gesellschaft hat zu einem Verfall der moralischen Werte geführt; die historische Schuld werde übertrieben, die Mainstream-Medien unterdrücken die „freie Meinungsäußerung“. Deswegen sei es notwendig dagegen anzugehen.

 

Money-Kyrle war einer der ersten, der diese Perversion des Über-Ich im Detail beschrieben hat und aufgezeigt hat, warum die ‚Masse‘ dafür so empfänglich ist.

 

In seinem Artikel geht Roger Money Kyrle ausführlich auf die verschiedenen Phasen der durch die Propaganda induzierten Psychose ein, die depressiv-paranoide, die manisch-erregte Phase und schließlich die Sehnsucht nach einem paradiesischen Zustand, in dem alle Ungerechtigkeit und Verschiedenheit unter der Herrschaft eines charismatischen Führers aufgehoben sind. Hier sind Parallelen zur kürzlichen Antrittsrede Donals Trumps zu erkennen.

 

Money-Kyrle weist auf die bedrohlichen Entwicklungen hin, die dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unmittelbar vorausgingen. Darüber hinaus betont er die Rolle der Medien, durch die die Propaganda verbreitet wird, sowie die regressiven Prozesse, die vor allem in Gruppen auftreten.

Ein Vergleich der von Money-Kyrle analysierten Propagandareden Hitlers und Goebbels mit Vladimir Putins „Rede an die Nation“ vom 21. Februar 2022 zeigt einige Parallelen: Zunächst wird der elende Zustands Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion beklagt. Dann werden innere und äußere Feinde für diesen Zustand verantwortlich gemacht: nationalistische Kräfte, die die Ablösung der Ukraine von Russland betrieben, die NATO-Staaten, die sich immer weiter ausbreiteten und Russland bedrohen, der vom Ausland unterstützte Putsch der Maidan-Bewegung, die Machtübernahme durch „Neonazis“, bis hin zu angeblichen Plänen der ukrainischen Regierung, Russland mit Atomwaffen zu bedrohen, und dem angeblichen Genozid an der russischen Bevölkerung im Donbas – um daraus das Recht abzuleiten, sich gegen diese Bedrohung zu wehren. Und schließlich der Aufruf an alle „patriotischen Kräfte“ des Landes, die „getroffenen Entscheidungen“ zu unterstützen bis hin zur Schuldumkehr, das ukrainische Regime trage selbst Verantwortung für das „Blutvergießen“, das dann folgen werde.

Allerdings schien Putins Rede eher der Rechtfertigung für einen bereits beschlossenen Angriffskrieg zu dienen und nicht so sehr der Aufheizung eines „Kriegsfiebers“, von dem in der russischen Bevölkerung damals und auch heute wenig zu verspüren war.

 

 

Die Untersuchung der humanistischen, autoritären und faschistischen Persönlichkeit

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Money-Kyrle 1946 für sechs Monate nach Deutschland zurück, um im Auftrag einer Alliierten Kontrollkommission, der German Personnel Research Branch, herauszufinden, welche Individuen für den Aufbau eines demokratischen Deutschland geeignet sein könnten. Die Kommission wurde von Henry Dicks beraten, einem Militärpsychiater, der fließend Deutsch, Russisch und Englisch sprach. Dicks hatte ab 1928 an der neu gegründeten Londoner Tavistock Clinic gearbeitet, nahm dort die Stellung des Vize-Direktors ein und hatte einen Professorentitel erworben. Er war u.a. in die Begutachtung von Rudolf Hess einbezogen und hatte sich schon früh mit jenen Persönlichkeitszügen beschäftigt, die die Herausbildung faschistischer Einstellungen begünstigen.

In seiner 1951 erschienenen Arbeit geht Money-Kyrle aufgrund der vielen Gespräche mit deutschen Bewerbern auf deren biographischen Hintergrund und Persönlichkeit ein. Vor dem Hintergrund der theoretischen Vorstellungen Melanie Kleins galt sein Augenmerk vor allem der Über-Ich-Struktur und dem Umgang mit Schuldgefühlen. Die meisten der von ihm gesehenen Personen waren keine aktiven oder fanatischen Nazionalsozialisten. Idealtypisch unterscheidet er aufgrund der Interviews zunächst eine autoritäre und eine humanistische Persönlichkeit, wobei der erstere Typus seiner Einschätzung nach mindestens fünf Mal häufiger vertreten war.

Die autoritäre Persönlichkeit zeichnet sich durch eine bestimmte Form der Loyalität zu Vorgesetzten bzw. zum „Vater Staat“ aus, die durch unbedingten Gehorsam und zwanghafte Genauigkeit geprägt ist. Das Pflichtgefühl gegenüber der Autorität überwog in der Regel persönliche moralische Vorstellungen. Schuldgefühle stellten sich bei diesen Persönlichkeiten vor allem dann ein, wenn sie Befehlen nicht gehorchten oder sich gegen die Autorität auflehnten, selbst wenn deren Anordnungen grausam und verbrecherisch waren.

 

Die humanistischen Persönlichkeiten werden dagegen weit weniger von einem strengen elterlichen Über-Ich geprägt. Sie sind nicht in erster Linie mit unbedingtem Gehorsam und Pflichterfüllung beschäftigt. Sie haben mehr Raum für liebevolle Gefühle und Mitgefühl. Diese Personen waren empört über den Staat, dem sie dienen mussten. Sie empfanden Schuldgefühl nicht wegen mangelndem Gehorsam, sondern aus Mitgefühl mit den Opfern. Sie waren in der Lage, gute und schlechte Seiten sowohl bei sich selbst als auch bei anderen anzuerkennen und näherten sich dadurch jenem Gefühlszustand, den Melanie Klein als „depressive Position“ (Klein 1946) beschrieb.

An dieser Stelle greift Money-Kyrles Analyse tiefer, indem er die Natur der zugrundeliegenden Ängste untersucht, insbesondere die Unterscheidung von verfolgender und depressiver Angst. Es ist die letztere, die zu Trauer und Wiedergutmachung befähigt, wohingegen erstere ein bestrafendes und verfolgendes Über-Ich hervorbringt. Der von Money-Kyrle als „autoritär“ beschriebene Charakter ist mehr mit Macht und der Angst vor Strafe beschäftigt, wohingegen das Über-Ich der humanistisch eingestellten Menschen zum Erleben von Zweifeln, Unsicherheit sowie zu Mitgefühl befähigt. Es ist dieses reifere Über-Ich, welches das Durcharbeiten von Schuldgefühlen und das In-Gang-Kommen von Wiedergutmachungsprozessen ermöglicht, wie sie Klein und Rivière (1937) wenige Jahre zuvor als zentral für seelische Gesundheit beschrieben hatten. Erst wenn Wiedergutmachungs-prozesse einsetzen, können sich Symbolisierungsprozesse entwickeln. Und erst dann kann auch das konkretistische Denken in Teilobjekt-Beziehungen überwunden werden.

In seinem Aufsatz beschreibt Money-Kyrle auch die geschichtlichen Bedingungen, die Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren vielleicht noch mehr als andere Gesellschaften für das Entstehen faschistischer Strukturen empfänglich machten. Er vermutet, dass eine autoritäre Tradition, die von Friedrich dem Großen über die Hohenzollern bis hin zu Wilhelm dem Zweiten reicht, durch den Ausgang des Ersten Weltkriegs und die darauffolgende wirtschaftliche Krise zusammenbrach und durch die kurze Phase der Weimarer Republik nicht wirklich in eine demokratische Entwicklung überführt werden konnte. Vielmehr hätten die Unsicherheit und Verwirrung jener Zeit dazu beigetragen, dass faschistische Denkmuster entstehen konnten, die sich schließlich in Hitlers megalomaner Utopie verdichteten. Es ist dieser Übergang von einer autoritären in eine faschistische Struktur mit dem kurzen Zwischenspiel einer demokratischen Entwicklung, der Money-Kyrle besonders interessierte. Es sei viel leichter von einer autoritären in eine faschistische Struktur überzugehen, als eine dauerhafte demokratische Entwicklung einzuleiten – ein Phänomen, das mancherorts auch nach dem Ende des sog. „Kalten Krieges“ zu beobachten war.

 

Und hier beschäftigt sich Money-Kyrle mit einem wichtigen Unterschied, nämlich dem Unterschied zwischen der autoritären und der faschistischen Persönlichkeit. Letztere sei nicht lediglich eine Steigerungsform der ersteren, sie beruhe auf qualitativen Unterschieden. Waren im familiären Hintergrund der ersteren häufig autoritäre Väter zu finden, denen sich die Mütter unterordneten, so stammte der typische faschistische Nationalsozialist eher aus gebrochenen oder zerrütteten Familienverhältnissen mit Müttern, die in Abwesenheit ihrer Männer oft selbst erhebliche psychische Probleme hatten. Diese Instabilität disponierte unter den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg zur Delinquenz und diese Delinquenz wiederum wurde durch die Nazipartei gewissermaßen institutionalisiert, mit der tragischen Konsequenz, dass sich autoritär disponierte Personen nun auch den faschistischen „Führern“ unterordneten und ihren Befehlen gehorchten.

Idealtypisch unterscheidet Money-Kyrle also zwischen einer humanistischen, einer autoritären und einer faschistischen Persönlichkeit, die er in seiner Arbeit ansatzweise von der autoritären differenziert. Die humanistische Persönlichkeit ist in der Regel durch ihre Herkunft aus einem liberal-bürgerlichen Elternhaus charakterisiert. Die Eltern werden als Paar wahrgenommen, auf das das Kind angewiesen ist und von dem es aufgrund seiner Kleinheit und Unreife zugleich ausgeschlossen ist. Demgegenüber ist die Ödipussituation des autoritären Charakters durch einen machtvollen Vater charakterisiert, dem sich die Mutter unterwirft und vor dem das Kind Angst hat. Die faschistische Persönlichkeit wiederum ist durch ein zerrüttetes Elternhaus ohne wirkliche Paarstruktur bzw. durch ein gespaltenes Elternpaar charakterisiert, in dessen Verkehr das Kind in seiner Phantasie omnipotent und ohne klare Abgrenzung eindringt. Entsprechend unterschiedlich ist die Natur der Ängste, die Art der vorherrschenden Abwehrformen und die daraus resultierende Über-Ich-Struktur.

Wenn ich die Überlegungen Roger Money-Kyrles an dieser Stelle weiterführen darf, so ließe sich sagen, dass das reife Über-Ich der humanistischen Persönlichkeit die Eltern als gleichberechtigtes und wechselseitig aufeinander bezogenes Paar enthält. Es erlaubt, Unsicherheit zu tolerieren und ermöglicht den Übergang von Schuldgefühlen zu Wiedergutmachung und Mitgefühl. Das Über-Ich der autoritären Persönlichkeit wird von der Macht des Vaters beherrscht, der Angst verbreitet und Unterwerfung verlangt. Das ödipale Szenario der faschistischen Persönlichkeit hingegen ist zersplittert und verzerrt. Hier herrschen projektive und Spaltungsprozesse vor. Die Eltern sind nicht miteinander verbunden, sondern enthalten abgespaltene und projizierte Teile des eigenen Selbst. Dieses Über-Ich ist entweder nicht vorhanden oder in eine perverse Über-Ich-Organisation transformiert.

In seinen späteren Arbeiten spricht Money-Kyrle (1965) von der Usurpation des Über-Ich durch ein megalomanes Ich oder von einer Verzerrung der ‚elementaren Lebenstatsachen‘ (‚basic facts of life‘; Money-Kyrle 1968; 1971), wie sie vor allem für jene Persönlichkeiten charakteristisch sind, die er bereits 30 Jahre zuvor als „borderline-psychotic“ beschrieben hatte.

 

Solche Borderline-Organisation bewirken systematische Verzerrungen der inneren und äußeren Realität. Sie liefern fake news, und ‚alternative realities‘, die durch perverse Argumente zusammengehalten (Weiß 2010) und gegenüber der Wirklichkeit und inneren Widersprüchen abgedichtet werden – ein Mechanismus, wie ihn im Anschluss an Money-Kyrle vor allem John Steiner (1993) untersucht hat.

Schlussbemerkung

Es war Roger Money-Kyrles Verdienst, das Zustandekommen und die Wirkung solcher Missrepräsentationen nicht nur an klinischem Material aufgewiesen zu haben, sondern in seinen sozialpsychologischen Analysen insbesondere mit jenen Prozessen zu verbinden, die innerhalb von Gruppen und der Gesellschaft wirksam werden. Dadurch entstehen – wie wir heute am Beispiel der rechtspopulistischen Propaganda sehen – toxische Spiralen, die nicht nur das Urteilsvermögen des Einzelnen trüben, sondern ganze gesellschaftliche Gruppen infizieren.

 

Money-Kyrle war bei Freud in Analyse gewesen, nachdem dieser gerade seine Arbeit „Massenpsychologie und Ichanalyse“ (Freud 1921c) abgeschlossen hatte und mit „Das Ich und das Es“ (Freud 1923b) seine neue Strukturtheorie formulierte. Bedenkt man, dass seine Arbeit über die psychologischen Kriegsursachen nur ein Jahr später als Freuds (1933b) „Warum Krieg?“ verfasst wurde, so erkennt man, dass seine psychologische Analyse, die Beschreibung der projektiven Mechanismen, die ein Feindbild konstellieren, der manischen Abwehr von Verfolgungsangst, der Aufschaukelung von klaustrophoben Ängsten im ‚encirclement‘ und der toxische Spirale von Gewalt viel tiefer reicht.  Money-Kyrle hat nicht nur auf den regressiven Sog von Gruppenprozessen hingewiesen, sondern schon sehr früh die Rolle der Medien, deren Reichweite und affirmativen Anspruch gegenüber der Wirklichkeit gesehen – ein Phänomen, dem wir heute in der Konstruktion virtueller Welten begegnen, die ihre eigene Logik und ihre eigenen Geltungsansprüche hervorbringen. Früher, so sagt er, wurden Nachrichten mündlich übermittelt, später glaubte man sie, weil sie in der Zeitung stehen, aber mit Radio und Fernsehen wurde eine neue Qualität und Verbreitungsgeschwindigkeit erreicht. Heute, so könnte man vielleicht hinzufügen, haben digitale Plattformen die Funktion des „Volksempfängers“ übernommen, indem sie manipulierte Botschaften jenseits der „Realitätsprüfung“ (dem „Faktencheck“) große Geltung verschaffen dem „Volk“ suggerieren, was es zu denken hat.

 

Money-Kyrle’s Analysen wurden in der deutschen Rezeption lange Zeit kaum aufgenommen. Sie waren ihrer Zeit weit voraus und haben, wie ich zu zeigen versuchte, auch in Bezug auf die aktuellen Konflikte Gültigkeit. Hört man Vladimir Putins Rede vom 21. Februar 2022, so lassen sich darin fast alle Elemente erkennen, die Money-Kyrle als charakteristisch für die kriegerische Propaganda beschrieben hat. Erneut müssen wir mit ansehen, wie durch  machtbesessene, despotische Gruppen Leid über Millionen von Menschen gebracht wird, und wir können uns noch gar nicht vorstellen, wie nach der Erschöpfung, die der manischen Zerstörung folgt, sei es in der Ukraine oder in Israel und Gaza, das Weiterleben und ein Wiederaufbau aussehen könnten.

In Bezug auf Deutschland im Jahr 1946 hatte Money-Kyrle formuliert:

 

„(…) sehr viele Deutsche befanden sich in einer depressiven Phase, die entweder durch einen Impuls zur konstruktiven Wiedergutmachung oder, wenn dies scheitert, durch einen erneuten paranoiden Angriff auf die Objekte gefolgt werden könnte, die sie beschädigt hatten. Viel hängt deshalb davon ab, ob und wie schnell sie das Gefühl haben, dass ihnen gestattet wird, sich in der Verteidigung dieser Objekte mit anderen westlichen Nationen zu vereinen.“ (Money-Kyrle 1951a, S. 244)

Ich denke, treffender könnte man die heutige Situation in Russland und in der Ukraine, aber auch im Israel-Palästina-Konflikt, kaum beschreiben. Auch hier geht es darum, ob der destruktive Zyklus von Vergeltung und Rache überwunden werden kann, ob Mitleid nicht nur mit den eigenen Opfern, sondern auch mit den Opfern der anderen Seite entstehen kann. Nur wenn dies möglich ist, können Trauer und Schuldgefühle entstehen und Wiedergutmachungsprozesse eingeleitet werden, die der verführerischen Propaganda eines perversen Über-Ich, das Money-Kyrle schon so früh beschrieben hat (Weiß 2024), widersthehen.

 

Allerdings wissen wir zur Zeit nicht so genau, ob die „westlichen“ Werte, auf die sich Money-Kyrle bezieht, auch heute noch die gleichen sind. 

Literatur

Adorno, Th. W. (1951a), Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt .A.: Suhrkamp 1973.

Adorno, Th (1952b) Freudian theory and the pattern of fascist propaganda, in: Adorno, Th. W., Soziologische Schriften I. Ges. Schr. Bd. 8, Wissenschaftliche Buchgesellshaft, Darmstadt: 408-433.O’Shaughnessy, E. (1998), Kann man einen Lügner psychoanalysieren? (Hg. Frank, C., Weiß, H.) Perspektiven Keinianischer Psychoanalyse, Bd. 3. Tübingen: edition diskord.

 

Freud, S. (1921c), Massenpsychologie und Ich-Analyse. G.W. 13, 71-161.

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Freud, S. (1923b): Das Ich und das Es. GW 13, 237-289.

Klein, M. (1946), Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen. Ges. Schr., Bd.

III, 1-41.

 

Klein, M. Money-Kyrle, R., Heimann, P. (eds) (1955), New Directions in Psychoanalysis. The Significance of Infant Conflict on the Pattern of Adult Behaviour. London: Tavistock.

Klein, M., Rivière, J. (1937): Love, Hate and Reparation. London (Hogarth Press)

Meltzer, D., O’Shaughnessy, E. (Hrsg. 1978), The Collected Papers of Roger Money-Kyrle. Strath Tay, Perthshire: Clunie Press.

 

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Prof. Dr. med. Heinz Weiß, Abteilungs für Psychosomatische Medizin, Robert-Bosch-Krankenhaus, Auerbachstraße 110, D-70376 Stuttgart (heinz.weiss@rbk.de), Sigmund-Freud-Institut, Myliusstraße 20, D-60323 Frankfurt a.M.(weiss@sigmund-freud-institut.de)

 

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Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
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