Wed, 6 Apr 2022
Betreff: |
Re: Butscha!!! im Ukrainekrieg |
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Datum: |
Wed, 6 Apr 2022 |
Von: |
Günter Rexilius <guenter.rexilius@t-online.de> |
An: |
ippnw-deutschland@ippnw-lists.de, |
Hallo zusammen,
vor etwa zwei Jahren begann ein Wettstreit um die richtigen Einschätzungen von und Meinungen zu Covid19, der teilweise schwer erträglich war, weil sachliche Begründungen häufig durch persönliche Angriffe ersetzt wurden. Jetzt steuern wir, angesichts des Krieges in der Ukraine, auf ein Déja-vu zu, das den offensichtlichen friedenspolitischen Notwendigkeiten kontraindiziert ist.
Es wäre ein Gewinn für die gemeinsamen Aufgaben, nicht nur einen Atomkrieg zu verhindern, sondern ein friedliches Miteinander aller Menschen in Europa und weltweit zu erreichen, wenn das Verbindende stärker in den Vordergrund rücken würden: Jede/r, die/der sich hier äußert, steht hinter dem friedenspolitischen Auftrag, dem die IPPNW sich verpflichtet fühlt, das ist die gemeinsame Basis. Niemandem sollte deshalb unterstellt werden, sie/er betreibe Propaganda für irgendeine Kriegspartei, sei naiv oder dumm oder was immer, und oberlehrerhafte Zurechtweisungen à la „rausplappern“ und „mehr reflektieren“ für KollegInnen, die sich bemühen, fundierte und objektive Positionen zu entwickeln, sollten nicht die Auseinandersetzungen mit ihnen ersparen, sondern sie sollten ernst genommen und sachlich fundiert kritisiert werden.
Zur Versachlichung der Debatte einige wenige – von vielen möglichen – Fixpunkte, die unstrittig sein sollten, weil es sich um Fakten bzw. Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten handelt:
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Jeder Krieg ist ein Verbrechen, so auch der Russlands gegen die Ukraine. Und egal, welche Meinungen sie/er sonst vertritt, niemand, die/der in der IPPNW friedenspolitisch aktiv ist, wird auch nur einen toten Soldaten, ein totes Kind, einen durch Granatsplitter verkrüppelten Menschen, auch kein zerstörtes Gebäude rechtfertigen wollen, weil sie nicht zu rechtfertigen sind.
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Jedes Ereignis, auch jeder Krieg, hat eine – oft jahrzehntelange – Vorgeschichte, fällt nicht plötzlich „vom Himmel“. Wir müssen begreifen, was dort geschieht, nach Erklärungen suchen, wenn wir nicht in irgendwelche metaphysischen oder pathologischen oder quasi-religiösen Reaktionsmuster verfallen wollen – und wenn wir aus den Fehlern, die zum Krieg geführt haben, lernen wollen, um einen nächsten verhindern zu können. Noch mal: Es geht nicht darum, zu verstehen, weil unser Verstand uns sagt, dass es immer andere Lösungen geben müsste – aber der faktische Konjunktiv stellt diese Gewissheit in Frage, ihm müssen wir uns stellen.
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Zur Erklärung gehört, dass die – dokumentierten – Absprachen zwischen westlichen PolitikerInnen und Gorbatschow, die das Ende des Realen Sozialismus einläuteten, sind von ihnen systematisch gebrochen worden sind. Putins Angebote in seinen Reden 2001 vor dem deutschen Bundestag und vor der Sicherheitskonferenz 2007, einen gemeinsamen Rahmen für ein friedliches Zusammenleben in Europa zu schaffen, sind ignoriert, teilweise verlacht worden. Die Nato-Osterweiterung stellt eine massive Bedrohung nicht nur Russlands, sondern des Weltfriedens dar, an der die EU einschließlich Deutschlands aktiv beteiligt ist.
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Zur Erklärung gehört weiter, dass die amerikanische und die Nato-Politik bewusst, gezielt und aktiv einen Krieg Russlands gegen die Ukraine gewollt und mit Milliardensummen, geheimdienstlichen Manövern und politischen Volten herausgefordert haben. Die Schlussfolgerung, dass Putin in die Falle getappt ist, die sie ihm gestellt haben, liegt nahe, scheint aber verkürzt zu sein, aus zwei Gründen: Erstens fällt er dennoch seine eigenen Entscheidungen, zweitens darf die Wirkung der Drohung, die Selenskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz mit der Forderung nach Atomwaffen in den weltpolitischen Raum gestellt hat, nicht unterschätzt werden. Und es sollte nicht vergessen werden, dass Frankreich und Deutschland sich ihrer Verantwortung, die Ukraine auf das Minsk-2-Abkommen zu verpflichten, entzogen haben.
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USA und Nato haben nach Ende des 2. Weltkriegs 33 Kriege geführt, Länder überfallen, Völkermorde begangen, die meisten ohne UNO-Mandat, einschließlich des Jugoslawienkrieges, teilweise mit bewussten Lügen gerechtfertigt, überwiegend von hegemonialen und ökonomischen Interessen ausgelöst. Wer heute mit dem Finger auf Putin zeigt und ihn – zu Recht, wiederhole ich – anklagt, sollte sich fragen, wie laut und anklagend sie/er gegen all diese mörderischen Angriffe protestiert hat. Einschließlich der saudischen Verbrechen im Jemen, die zwar nicht mit Nato-Hilfe, aber mit Waffen aus Ländern, die ihr angehören, nicht zuletzt aus Deutschland mit bewusster Entscheidung deutscher PolitikerInnen, begangen werden.
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Die Wahrheit stirbt zuerst, diese Wahrheit sollte unstrittig sein. Wir sind, nicht erst mit Beginn des Krieges, sondern grundsätzlich, einem medialen Propaganda-Tsunami ausgesetzt, der, von Tagesschau bis Süddeutscher und taz, Regierungspolitik befürwortet und weitgehend unhinterfragt unterstützt. Wer sich nicht die Mühe macht, Informationsquellen zu suchen, die historisch und analytisch „hinter die Kulissen“ schauen, weil sie journalistische Arbeit nicht durch Loyalitätsdiffusität ersetzen, gerät zwischen die Mühlsteine Vorurteil und Blickverengung.
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In Bezug auf die Ukraine sollte die friedenspolitische Linie klar sein: Aufhören mit jeder kriegerischen Handlung der russischen, aber auch der ukrainischen Armee gegen die Ostukraine, wo sie 14000 Menschen „auf dem Gewissen“ hat; keiner Propaganda glauben, weder der ukrainischen noch der russischen, sondern – grundsätzlich und aktuell in Bezug auf Butscha – neutrale Untersuchungen fordern, aller, also der möglichen sowohl russischen als auch ukrainischen Kriegsverbrechen; in die bellizistische deutsche Politik, die sich darin gefällt, den Krieg durch immer mehr Waffenlieferungen weiter anzuheizen, eingreifen; die forcierte Aufrüstung der Bundeswehr, die Lagerung amerikanischer Atomwaffen in Büchel, die Steuerung tödlicher Drohnen von Ramstein aus usw., stoppen; wirtschaftliche Sanktionen, die, wie Kriege, immer die Menschen treffen, die unschuldig, an den Verbrechen unbeteiligt und oft ihre doppelten Opfer sind, beenden.
Der Brief von IALANA an den Bundeskanzler hat überraschend wenig Resonanz auch in diesem Verband und auf diesem Portal gefunden, obwohl er in seinen Forderungen und Begründungen zielgenau ist und ins öffentliche Bewusstsein getragen werden müsste. Es könnte ein gemeinsames Anliegen aller in diesem Verein aktiven Menschen sein, auf seiner Basis den notwendigen friedenspolitischen Druck auszuüben.
Dr. Günter Rexilius
Psychol. Psychotherapeut
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41189 Mönchengladbach
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