Jacques Baud zum Ukraine-Krieg: „zurück in die Realität …“

31.7.23, Jacques Baud zum Ukraine-Krieg: „Wir müssen langsam wieder zurück in die Realität kommen“

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Das Gedankengerüst der konventionellen Kriegsführung ist nach Baud im Westen verschwunden, deswegen haben Russen intellektuell einen Vorteil gegenüber der NATO.

Teil 1 des Gesprächs: „Die Russen wollen nicht weiter westlich in die Ukraine vorstoßen“

Zum Abschluss eine Prognose von Ihnen. Wie wird es in den nächsten Monaten weitergehen? Kann man da einen Trend erkennen? Wird sich die Ukraine erschöpfen? Kann sie nicht mehr? Wird sie weiter aufgerüstet werden, so dass sie das auch technisch vielleicht durchstehen kann? Oder ist es absehbar, dass der Krieg einfach so weitergeht?

Jacques Baud: Die Antwort liegt im Grunde genommen beim Westen, weil man sieht, dass die westliche Hilfe an der Grenze ist. Es gibt keine Waffen mehr. Die Streumunition wurde geschickt, weil die Amerikaner keine andere Munition mehr haben. Es wird aus diesem Grunde vielleicht eine kleine Eskalation stattfinden, aber sie wird das Resultat des Krieges nicht ändern. Man muss sich also tatsächlich im Westen Gedanken machen. In den USA hat dies, glaube ich, bereits angefangen, weil die Amerikaner mit dem Krieg nicht in den Präsidentschaftswahlen gehen wollen. Sie wollen das Problem gelöst haben. Das heißt, man wird in den kommenden Monaten, glaube ich, hoffe ich, eine vernünftige Lösung finden. Aber das wird von der Seite der Amerikaner kommen, weil die Europäer Extremisten und noch royalistischer als der König sind.

Es geht natürlich jetzt darum, das Gesicht zu wahren, weil man jetzt sieht, dass alles, was man vorher gesagt hat, also Russland hat verloren, die Wirtschaft ist am Boden und die Armee schlecht geführt und so weiter, Lügen waren. Man merkt das heute. In mehreren Ländern gibt es Druck, eine politische Lösung zu finden und keine Militärhilfe mehr an die Ukraine zu schicken. Ein interessantes Anzeichen war die Äußerung des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace, dass die Ukraine mehr Dankbarkeit zeigen solle für alles, was man gegeben hat. Das hat auch die Ukraine geärgert. Aber das zeigt auch, dass die westlichen Länder ihre eigenen Lügen geglaubt haben. Und jetzt sind sie in ihren eigenen Lügen gefangen. Wir müssen langsam wieder zurück in die Realität kommen.

Ich glaube, die Bevölkerung hat das Problem verstanden. Man hat verstanden, dass, egal wer der Böse oder Gute ist, die Lösung nicht aus den Waffen kommt. Mein Freund Peter Maurer, ehemaliger Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf, hat gesagt, dass man eine Krise nicht löst, indem man sagt, wer böse oder gut ist. Man muss mit Mediation, mit Diskussion arbeiten. Sicher meinen viele Menschen, dass Putin ein schlechter Typ ist, aber das löst das Problem nicht. Man kann über Putin alles sagen, was man will, die Lage in der Ukraine hängt davon nicht ab. Man muss zu einem realistischen Lösungsansatz kommen und nicht der Ideologie über Diktatur und Demokratie und so weiter folgen. Das hat vielleicht intellektuell einen Sinn, aber keinen im Hinblick auf die Lösung des Krieges.

Selbst wenn es eine politische Lösung geben sollte, würde der Konflikt wahrscheinlich nicht vorbei sein. In Russland und in der Ukraine wird es nationalistische Bestrebungen geben, die den Kampf offen oder subversiv  weiterführen wollen. Auf der anderen Seite sind die Waffenlager des Westens erschöpft, während der Konflikt zwischen den USA und China weiter droht. Wie verändert sich dadurch die Situation? Ist das vielleicht auch ein Grund für die Amerikaner zu sagen: Wir wollen jetzt schauen, wie wir aussteigen können.

Jacques Baud: Ja, es gibt keinen Grund, diesen Krieg weiterzuführen. Die militärische Lage ist, wie sie ist. Bereits Obama hatte gesagt, dass man bei einem Krieg mit Russland über die Ukraine immer verlieren wird, weil Russland die Eskalationsdominanz besitzt. Wir haben nicht die Mittel, gegen Russland zu kämpfen. Wenn man die militärische Lage objektiv beurteilt, sieht man, dass die Russen tatsächlich militärisch viel besser sind, als uns gesagt wird. Man darf nicht vergessen, dass unsere Armeen seit Ende des Kalten Krieges keine Erfahrung mehr mit konventionellen Kriege haben. Die Kriege im Nahen Osten oder Afghanistan waren Counterinsurgency, Aufstandsbekämpfung, die auf ganz anderen Prinzipien beruht als der konventionelle Krieg.

Das operative Niveau verschwindet, wenn man gegen Terroristen oder Banden kämpft. Die Russen haben diesen Nachteil nicht, für sie ist die Armee auf die Verteidigung des Landes, das heißt auf einen konventionellen Kampf, ausgerichtet. Sie haben diese Denkweise ausgebildet, während wir auch intellektuell nicht für einen konventionellen Krieg bereit sind. Wir haben sehr gute Waffen, wir haben sehr gute Mittel, aber wir haben die Doktrin nicht mehr. Wir haben das Wissen, wie man einen konventionellen Krieg führt, seit 30 Jahren total verloren. Das ist eine Generationsfrage. Die Leute, die heute im Kommando sind, kennen die Doktrin des Kalten Kriegs nicht, das heißt, sie sind gar nicht auf so einen Krieg vorbereitet.

Das sieht man übrigens auch daran, dass sich die Ukrainer beklagt haben, dass die NATO-Instruktoren, die die ukrainische Arme ausgebildet haben, eine falsche Vorstellung vom Kampf gegen die Russen haben. Wegen dieser falschen Vorstellungen, kann die Ukraine nicht ebenbürtig mit den Russen kämpfen. Auch in der Ukraine ist die Kalte-Kriegs-Doktrin eines konventionellen Kriegs verloren gegangen. Ukrainische Truppen waren in Afghanistan und im Irak eingesetzt. Das Gedankengerüst der konventionellen Kriegsführung ist verschwunden, sodass die Russen intellektuell einen Vorteil gegenüber der NATO haben. Wenn man die Diskussion innerhalb der militärischen NATO-Kreisen verfolgt, dann hat man dort erkannt, was man in den letzten 30 Jahren verloren hat, und versucht, das nachzuholen. Aber das wird sehr schwierig sein. Und es geht eben nicht nur um Waffen, sondern auch um die intellektuellen Einstellungen und die Doktrin unseres Militärs.

Es gibt aber doch auch Konflikte innerhalb des russischen Militärs. Der Konflikt mit Prigoschin ist nur ein Beispiel. Es gibt andere Kommandeure, die die russische Armeeführung kritisiert haben.

Jacques Baud: Das ist, was unsere Propaganda sagt. Aber gute Beobachter des Militärwesens in Russland sagen, das stimmt nicht. Das Militär in Russland ist viel beweglicher als unseres, auch in den Kommandostrukturen. Wie man die Kommandanten wählt, ist viel flexibler als bei uns. Was im Westen als eine Strafe gesehen wird, ist das nicht unbedingt auch im russischen System. Der Fall Prigoschin ist für mich ein Nebenschauplatz, der nichts mit Machtkämpfen im Kreml oder innerhalb des Militärs zu tun hat.

Beispielsweise wurde General Surowikin entmachtet, der doch auf einer anderen Ebene wie Prigoschin angesiedelt ist. Gibt es wirklich keine internen Konflikte?

Jacques Baud: Was mit Surowikin passiert ist, weiß ich nicht. Man hat gesagt, er sei jetzt im Ruhestand. Ich weiß es nicht. Aber es gibt keine Anzeichen, dass er fallen gelassen wurde. Übrigens hatte er sich gegen Prigoschin ausgesprochen. Er ist ein Mensch, der nie in den Medien gewesen ist. Das letzte Mal war er es im Oktober des letzten Jahres, als er zum Kommandanten der Streitkräfte in der Ukraine ernannt wurde und seine neue, im Grunde defensive Strategie erklärt hat. Seitdem ist er nicht mehr in den Medien gewesen. Wenn man jetzt meint, dass etwas passiert sein muss, weil er nicht in den Medien auftaucht, dann sagt das nichts, weil er dort nie präsent war.

Das ist bei anderen Kommandanten, vor allem auf der ukrainischen Seite, ganz anders. Saluschni beispielsweise, der Kommandant der Streitkräfte in der Ukraine, ist immer in den Medien präsent gewesen. Als er für ein paar Wochen nicht mehr zu sehen war, hat man sich die Frage gestellt, was mit ihm los ist. Er scheint jetzt wieder im Amt zu sein, aber mehr weiß ich nicht.

Also Sie sehen da keine Anzeichen von dem, was oft behauptet wird?

Jacques Baud: Nein, ich glaube nicht. Es gibt keine objektiven Hinweise, dass Probleme innerhalb der militärischen oder politischen Führung in Russland vorhanden sind.

Von Jacques Baud ist kürzlich das Buch „Putin – Herr des Geschehens?“ im Westend Verlag erschienen. Das Gespräch wurde am 26. Juli geführt.

Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein abgeschlossenes Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit und internationalen Beziehungen. Er arbeitete als für die Ostblockstaaten und den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst und leitete die Doktrin für friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen New York. Dort war er zuständig für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen bei der NATO und beteiligt an den NATO-Missionen in der Ukraine.

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84 Kommentare

  1. „Wir müssen langsam wieder zurück in die Realität kommen“

    Spätestens seit Corona läuft der öffentliche Meinungsaustausch im Westen nicht mehr entlang der Realität, sondern entlang der Narrative, die von der Politik oder den Medien vorgegeben werden.

    In diesem Ideologischen Austausch geht es nicht um Argumente, die sich an der Realität messen lassen müssen, sondern um Übereinstimmung mit der Narrativ. Argumentierst du gegen das Narrativ, bist du böse, ein Nazi, Antisemit oder Verschwörungstheoretiker, unterstützt du das Narrativ bist du ein Guter genau wie alle Politiker im Wertewesten. Die anderen sind die Machthaber, Leugner und Undemokraten. Und die Wortführer dieser Antidemokraten müssen fertig gemacht werden. Kündigen, Verklagen, Verurteilen, aus dem Land treiben, Inhaftieren.

    Aus diesem Modus kann man nicht einfach aussteigen.

  2. Putin wurde gestern von einem Journalisten gefragt, wie er die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg sehe.
    Hier ist seine Antwort:


    Ich habe gehört, dass die Ukraine ihre Identität und ihre Eigenständigkeit sucht, sich darum bemüht, ihre Identität zu festigen. An sich ist nichts Falsches daran, schließlich ist die Ukraine seit 1991 ein unabhängiger Staat, und es ist nur natürlich, dass sie ihre Identität sucht.

    Aber warum muss die Suche nach der Identität auf Grundlage des Neonazismus erfolgen? Warum sollte die Identität der modernen Ukraine mit Handlangern Hitlers wie Bandera und Shukhevych verbunden sein? Warum sollten Menschen, die anderthalb Millionen Juden, Russen und Polen ermordet haben, als Grundlage für die Identität der heutigen unabhängigen Ukraine dienen? Es erstaunt mich, wie naiv die Menschen sind, die das tun. Denn ja, momentan, während die Ukraine als Werkzeug im Kampf gegen Russland verwendet wird, erfreut es unsere Gegner. Sie sind bereit, alles dafür zu nutzen, egal was es ist, genau wie sie Al-Qaida im Kaukasus gegen uns eingesetzt haben. Al-Qaida in Europa ist schlecht, aber Al-Qaida im Kampf gegen Russland ist gut. Das Gleiche gilt für den Nazismus. Nazismus im Allgemeinen – schlecht, aber wenn er im Kampf gegen Russland eingesetzt werden kann, ist es in Ordnung. Beide Seiten irren sich. Diejenigen, die versuchen, Neonazis gegen uns einzusetzen, irren sich, weil es letztendlich auf sie zurückkommen wird, genauso wie der Terrorismus zu ihnen zurück gekommen ist. Und diejenigen, die ihre Identität auf nazistischen Ideen aufbauen wollen, irren sich, weil sie damit in eine Sackgasse geraten werden.

    5 Antworten auf diesen Kommentar anzeigen ▼
  3. Wieder mal ein Interview mit Jaques Baud, dass mich überhaupt nicht überzeugt.
    Er sieht wieder sehr einseitig und ziemlich unbelegt alle Trümpfe auf Seiten der Russen (wie so viele hier) und glaubt, dass der Krieg bald zuende sein wird.
    Das wäre ja schön, und wenn der Ukraine bald Waffen und Munition ausgehen und sie um Frieden bitten muss, soll mir das nur recht sein, besser jedenfalls als wenn die Russen klein-bei geben müssten, denn das hätte wohl weit schlimmere Folgen.
    Nur, ich kann den russsichen Erfolg noch nicht am Horizint erkennen. Selbst bei pro-russischen Militärbloggern hört man nicht so viel Positives in der Hinsicht. Die ukrainische Offensive ist zwar kein Erfolg, bohrt sich aber langsam ähnlich systematisch und ähnlich weit in die russische Front hinein wie die Russen im Winter es umgekehrt getan haben. Das ist wie Verdun und folgend die Somme-Schlacht im WK1. Ein komplettes Patt.

    Wie weit die Verluste an Soldaten bei den Ukrainern größer sind, ist unbewiesen und unklar. Möglicherweise sind sie aber nicht so viel größer als bei den Russen, nicht so viel größer, dass sie das nicht noch für Jahre weiter machen könnten. Dass dem Westen die Waffen ausgehen, ist vielleicht nur Wunschdenken. Wenn der Westen wirklich will, wird er die Mittel finden – ist doch logisch. Geld und Mittel sind vorhanden. Man sollte auch den Westen nicht unterschätzen. Die Frage ist eben nur _ob_ er will.

    Wie gesagt ich will nicht ausschließen, dass den Ukrainern die Soldaten ausgehen und dem Westen die Waffen und dass Russland in allem ein wenig überlegen ist. Das sagen ja Viele hier schon seit 1,5 Jahren. Aber so wirklich offenkundig ist es bisher nicht geworden, sondern mehr Wunschdenken geblieben.
    Und ich finde, wenn man nicht später als der Depp dastehen will und außerdem noch andere, mit irrenden, allzu sicheren Vorhersagen mitreißen möchte, sollte man sich etwas vorsichtiger äußern und sich hauptsächlich auf wirklich erwiesene Dinge stützen. Und wenn man Vermutungen anstellt, sollte man diese auch als solche kenntzeichnen und nicht als Tasachen hinstellen.

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
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