John Mearsheimer: It’s about NATO, stupid! Wie kann der Ukraine-Krieg enden?

John Mearsheimer: It’s about NATO, stupid! Wie kann der Ukraine-Krieg enden?  https://wp.me/paI27O-5PA

John Mearsheimer: It’s about NATO, stupid! Wie kann der Ukraine-Krieg enden? (der Freitag)

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/john-mearsheimer-its-about-nato-stupid-wie-kann-der-ukraine-krieg-enden?

Hier spricht ein ehemaliger Militär. Er lehrt seit 1982 Internationale Beziehungen an der Universität von Chicago, wobei er  durchaus ein Anhänger des Unilateralismus ist, über den völlig unverständlichen Bruch der „klarsten aller roten Linien“.

_________________________________________________

Und der weitgehend gleiche Text von ihm:  Wer hat den Ukraine-Krieg verursacht?                  https://www.nachdenkseiten.de/?p=120486

Wer hat den Ukraine-Krieg verursacht?

________________________________________

Debatte:
John Mearsheimer: It’s about NATO, stupid! Der Ukraine-Krieg und wie er enden könnte.
Er ist nicht nur ein prominenter Politologe, sondern auch früherer Offizier der US Air Force: John Mearsheimer erklärt, welche politischen und militärischen Fehleinschätzungen dem Ukraine-Krieg vorausgingen – und was jetzt zu wünschen wäre
Von John J. Mearsheimer
der Freitag, 31.10.2024

Als Forscher im Feld der internationalen Beziehungen habe ich lange vor einem Szenario wie dem Krieg in der Ukraine gewarnt. Ich habe immer argumentiert, dass es Folge einer falschen westlichen Politik wäre, wenn es so käme. Nun hält dieser furchtbare Krieg schon zweieinhalb Jahre an. Es hat sich gezeigt, dass die russischen Truppen nicht zu schlagen sind, ohne eine direkte Kriegsbeteiligung der NATO zu riskieren. Allmählich werden Stimmen lauter, die eine diplomatische Lösung finden wollen. Dem steht eine verbreitete Sorge entgegen: Einer konventionellen Meinung zufolge würde Russland das als Einladung verstehen, eine Eroberung der ganzen Ukraine später anzustreben – oder sogar noch weiter nach Westen vorzurücken. Meiner Ansicht nach gibt es für diese Ängste aber keine guten Gründe. Das möchte ich in zehn Punkten darlegen.
2
1. Putin hat eine Eroberung der Ukraine nie angekündigt
Die Meinung, dass Russland die ganze Ukraine annektieren wolle und daher mit ihm nicht zu verhandeln sei, wird oft damit begründet, dass Präsident Wladimir Putin das schließlich
offen angekündigt habe. Aber stimmt das? Fand Putin es erstrebenswert, die gesamte
Ukraine einzuverleiben? Hielt er es für machbar? Hatte er die Absicht, es auch wirklich zu
tun? In öffentlichen Äußerungen gibt es dafür keine Belege.
Putin hat gesagt, die Ukraine sei ein „künstlicher Staat“ oder kein „echter Staat“. Aber was sagt das über seine Gründe zum Kriegseintritt aus? Putin hat auch gesagt, er betrachte
Russen und Ukrainer als „ein Volk“ mit gemeinsamer Geschichte. Er nannte den Zusammenbruch der UdSSR „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“. Er sagte aber auch: „Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.“ Für Putin wurde „die moderne Ukraine vollständig von Russland geschaffen“. Doch in derselben Rede sagte er auch: „Natürlich können wir die Ereignisse der Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich
zugeben.“
In Putins bekanntem Artikel vom 12. Juli 2021 über die russisch-ukrainischen Beziehungen, der oft als Beweis seiner imperialen Ambitionen angeführt wird, sagt er dem ukrainischen Volk: „Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: Ihr seid willkommen!“ Zu der Frage, wie Russland die Ukraine behandeln sollte, schreibt er: „Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.“
Der lange Text endet mit dem Satz: „Und wie die Ukraine aussehen wird – das müssen ihre Bürger entscheiden.“ Ferner heißt es in diesem Text und erneut in einer Rede vom 21. Februar 2022, Russland akzeptiere „die neue geopolitische Realität“, die „nach der Auflösung der UdSSR entstanden ist“. Ein drittes Mal wiederholte er das noch am 24. Februar 2022, als er den Einmarsch ankündigte. Außerdem sagte er: „Wir haben nicht vor,
ukrainisches Territorium zu besetzen.“ Er respektiere die ukrainische Souveränität bis zu einem Punkt: „Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es sich einer ständigen Bedrohung durch das Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt sieht.“
Sicher kann man einwenden, dass öffentliche Erklärungen in einer solchen Situation nicht viel bedeuten. Dann kann man aber auch nicht mit denjenigen Teilen eben dieser Erklärungen argumentieren, die zur eigenen Wahrnehmung passen.
2. Putin hat eine Einverleibung der Ukraine nicht vorbereitet
Hätte Putin den Plan gehabt, die ganze Ukraine zu überrennen und einzuverleiben, würde man erwarten, dass er eine Marionettenregierung vorbereitet und in Kiew prorussische
Führungspersönlichkeiten aufgebaut oder irgendwelche Maßnahmen getroffen hätte, die eine Besetzung und Einverleibung des ganzen Landes erleichtert hätten. Aber niemand hat
irgendwelche belastbaren Hinweise auf derartige Aktivitäten.
3
3. Putins Invasionstruppe war für eine Eroberung der Ukraine ungeeignet Ich schätze, dass die Russen mit allerhöchstens 190.000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert sind. General Oleksandr Syrskyi, der Oberbefehlshaber der ukrainischen
Streitkräfte, sprach unlängst im Guardian von nur 100.000 Mann; die britische Zeitung hatte vor dem Krieg die gleiche Zahl genannt. Es ist unmöglich, dass eine Truppe dieser Größe die gesamte Ukraine erobern, besetzen und eingliedern könnte und sollte. Zum
Vergleich: Beim Angriff auf die westliche Hälfte Polens 1939 bot die deutsche Wehrmacht 1,5 Millionen Mann auf. Die Ukraine ist mehr als dreimal so groß wie das damalige Westpolen und hatte 2022 fast doppelt so viele Einwohner. Folgen wir jener Schätzung von 100.000 Mann, betrug die russische Invasionsstreitmacht von 2022 ein 15tel der deutschen von 1939.
Russische PanzerFoto: dpaWas Putin im Winter 2021/22 zusammenzog, war quantitativ und qualitativ keine Streitmacht, die die ganze Ukraine hätte erobern können. Offenbar rechneten die Russen nicht wirklich mit einem Krieg, als sich die Krise ab dem Frühjahr 2021 zuspitzte. Jedenfalls bildeten sie keine dafür geeignete Truppe. Oder hat der Kreml das ukrainische Militär völlig unterschätzt? In Moskau wusste man sehr wohl, dass die USA  und ihre Verbündeten das ukrainische Militär seit 2014 bewaffnet und ausgebildet hatten.
Man hatte gesehen, wie diese Armee zwischen 2014 und 2022 im Donbas erfolgreich agierte. Man wusste, dass das ukrainische Militär, das weitaus größer war als die Invasionstruppe, über starke westliche Rückendeckung verfügte.
Als die Russen ihre Truppen 2022 aus der Oblast Charkiw und aus einem Teil von Cherson abzogen, lag das nur teilweise am ukrainischen Druck. Putin und seine Generäle waren sich
klar darüber, dass ihre Vorbereitungen für die eingetretene Situation nicht ausreichten, und zogen sich auf besser kontrollierbare Positionen zurück. Von einer Armee, die aufgebaut
und ausgebildet wurde, um ein ganzes Land zu erobern, würde man etwas anderes erwarten.
4. Der russische Aufmarsch bezweckte konkrete politische
Zugeständnisse
Am 17. Dezember 2021 schrieb Putin an Präsident Joe Biden und NATO-Chef Jens Stoltenberg. Er schlug eine Lösung der Krise auf Grundlage einer schriftlichen Garantie vor:
Erstens würde die Ukraine nicht der NATO beitreten. Zweitens sollten keine Angriffswaffen in der Nähe der russischen Grenzen stationiert werden. Drittens sollte die NATO ihre seit 1997 nach Osteuropa verlagerten Truppen und Materialien nach Westeuropa zurückziehen.
Was auch immer man von diesen Eröffnungsforderungen hält, über die die USA keine Verhandlungen führen wollten: Sie zeigen, dass Putin ein politisches Ergebnis wollte und keinen Eroberungskrieg.
5. Moskau wollte nach Kriegsbeginn sofort verhandeln
4
Ein Angreifer, der ein Land erobern will, würde nicht sofort auf Gespräche drängen. Genau das aber tat Putin. Die Verhandlungen begannen in Belarus, nach nur vier Tagen Krieg. Die belarussische Schiene wurde dann durch eine israelische und eine Istanbuler Schiene ersetzt. Nach allen verfügbaren Informationen hat Russland ernsthaft verhandelt und keine territorialen Forderungen gestellt – mit Ausnahme der Krim und möglicherweise von Teilen
des Donbas. Die Ukrainer brachen die Gespräche auf Druck Londons und Washingtons trotz guter Fortschritte ab.
Putin selbst hat berichtet, er sei während dieser Verhandlungen aufgefordert worden, als Geste guten Willens seine Truppen aus dem Gebiet um Kiew abzuziehen, was er am 29. März 2022 auch tat. Keine westliche Regierung und kein ehemaliger Politiker hat diese Darstellung bestritten, die der Annahme weitreichender Eroberungspläne widerspricht.
6. Es gibt keine Hinweise auf revisionistische Pläne Moskaus jenseits der Ukraine
Für die im Westen verbreitete Angst, Russland wolle nach der Ukraine die baltischen Staaten, Polen oder Rumänien angreifen, gibt es außer unvollständigen Putin-Zitaten keinerlei Grund. Militärisch wäre Russland dazu auch nicht in der Lage, zumal dies mit ziemlicher Sicherheit einen Krieg mit den USA und den westeuropäischen NATO-Staaten bedeuten würde.
7. Die Krim-Besetzung war ein impulsiver Akt
In den ersten 14 Jahren seiner Amtszeit galt Putin im Westen nicht als ernsthafte Bedrohung. Im Gegensatz zur russischen Wahrnehmung waren auch die NATOErweiterungen von 1999 und 2004 nicht als Eindämmung einer russischen Gefahr gedacht.
Die im Westen ausschlaggebenden Personen und Kräfte glaubten ganz einfach nicht, dass eine solche bestand. Angesichts des Zustands der russischen Militärmacht trauten die westlichen Führer Moskau eine Bedrohung der Ukraine nicht zu, geschweige denn eine revanchistische Politik in Osteuropa. Auf dem Bukarester NATO-Gipfel im April 2008, bei dem eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine angekündigt wurde, war Putin sogar
geladener Gast. Er war natürlich erzürnt, doch das machte in Washington keinen Eindruck.
Man dachte, Russland sei zu schwach, um das zu verhindern. Es hatte die ersten beiden Erweiterungswellen akzeptiert, da würde es auch eine dritte schlucken.
Erst zum Beginn der Ukraine-Krise im Februar 2014 begann man in den USA, Putin als gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als ernsthafte militärische
Bedrohung zu beschreiben. Dieser abrupte Wechsel der Rhetorik sollte Putin allein für diese Krise verantwortlich machen. Natürlich unterstrichen die Besetzung der Krim im März 2014 und die Unterstützung der Separatisten im Donbas diese neue Wahrnehmung einer gefährlichen Macht im Osten mit einer lange gehegten revanchistischen und imperialen Agenda. Ich folge in der Einschätzung der russischen Politik von 2014 aber Michael McFaul,
5
der während des Kiewer Maidan US-Botschafter in Moskau war. Obwohl er ein Freund der Ukraine und scharfer Kritiker Putins ist, hält er die Einnahme der Krim nicht für eine lange geplante Aktion, sondern für eine impulsive Reaktion auf den Sturz des gewählten „prorussischen“ Führers der Ukraine.
Seit dem Einmarsch hat sich dieses Putin-Bild naheliegenderweise radikalisiert. Manche sprechen sogar von einer expansionistischen Tradition, die lange vor Putin bestanden habe und tief in der russischen Gesellschaft verwurzelt sei. Es gebe einen russischen Hang zur Aggression, der von obskuren inneren Kräften und nicht von Russlands äußerem Bedrohungsumfeld angetrieben werde. Es ist fast so, als ob es in seiner DNA läge.
Derartige Argumente werden in der akademischen Welt aus gutem Grund nicht ernst genommen.
8. Im Jahr 2021 war ein schneller NATO-Beitritt der Ukraine realistisch. Russland sah und sieht einen NATO-Beitritt der Ukraine als existenzielle Bedrohung. Das hat Putin kurz vor dem Einmarsch mehrfach dargelegt. Am 21. Dezember 2021 erklärte er
vor dem Verteidigungsministerium: „Was sie in der Ukraine tun oder versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern entfernt von unserer Landesgrenze statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach
nirgendwohin mehr zurückziehen können. (…) Glauben sie wirklich, dass wir tatenlos zusehen werden, wie Bedrohungen für Russland entstehen?“ Kurz vor dem Krieg wiederholte er: „Wir sind kategorisch gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt (…).“ Russland drohe, einem „bis an die Zähne bewaffneten ‚Antirussland‘“ gegenüberzustehen. Sein Außenminister Sergei Lawrow nannte es bei einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 den „Schlüssel zu allem“, dass „die NATO nicht nach Osten expandieren wird“.
In der westlichen Öffentlichkeit hört man hingegen oft, diese dramatisch vorgetragenen Befürchtungen seien nur vorgeschoben gewesen, weil 2021 ein baldiger NATO-Beitritt der Ukraine gar kein Thema gewesen sei. Das ist aber einfach falsch. Tatsächlich bestand die westliche Reaktion auf die Krise von 2014 darin, die Perspektive für einen ukrainischen NATO-Beitritt zu forcieren. Das Bündnis bildete in den folgenden acht Jahren durchschnittlich 10.000 Soldaten pro Jahr aus. Im Dezember 2017 beschloss die Regierung von Präsident Donald Trump die Lieferung von „Verteidigungswaffen“, andere NATOLänder zogen nach. Die ukrainische Armee, Marine und Luftwaffe begannen, an NATO Manövern teilzunehmen.
Aber auch für einen formalen Beitritt entstand eine neue Dynamik. Anfang 2021 vollzog Präsident Wolodymyr Selenskyi, der vorher keinen großen NATO-Enthusiasmus gezeigt hatte und im März 2019 auf der Grundlage einer Plattform gewählt wurde, die zur
Zusammenarbeit mit Russland bei der Beilegung der anhaltenden Krise aufrief, einen Kurswechsel. Nun befürwortete er nicht nur die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, sondern auch eine harte Linie gegenüber Moskau.

John J. MearsheimerFoto: John Mearsheimer

Zeitgleich war Präsident Joe Biden ins Weiße Haus eingezogen. Er hatte sich seit langem nachdrücklich für einen NATO-Beitritt der Ukraine eingesetzt. Es überrascht nicht, dass die NATO am 14. Juni 2021 auf ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel ein Kommuniqué herausgab, in dem es hieß: „Wir bekräftigen den auf dem Gipfel von Bukarest 2008 gefassten Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird.“ Als Selenskyj am 1. September 2021 das Weiße Haus besuchte, stellte Biden klar: Die USA seien „fest entschlossen“, die „euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen“. Am 10. November schließlich unterzeichneten US-Außenminister Antony Blinken und sein ukrainischer
Amtskollege Dmytro Kuleba die „Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine“. Man wolle, heißt es darin, „das Engagement für die Durchführung
tiefgreifender und umfassender Reformen in der Ukraine“ vorantreiben, „die für eine vollständige Integration in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen
erforderlich sind“. Wiederum wird ausdrücklich die „Bukarester Gipfelerklärung von 2008“ bekräftigt.
Es kann kaum Zweifel daran geben, dass die Ukraine Ende 2021 auf dem besten Weg zur NATO-Mitgliedschaft war. Einige Befürworter dieser Politik argumentieren, dass sich Moskau darüber keine Sorgen hätte machen müssen, sei doch die NATO ein defensives Bündnis und für niemanden eine Gefahr. Aber das ist nicht die Meinung Putins und anderer russischer Politiker, und darauf kam es hier an.
9. Der Westen hat die „klarste aller roten Linien“ leichtfertig ignoriert Es ist bedrückend, wie klar manche Beobachter und Beteiligte die Krise von 2014 und den Krieg seit 2022 vorhersahen. Zum Bukarester Gipfel von 2008 sagte kürzlich die damalige
Bundeskanzlerin Angela Merkel, es sei ihr klar gewesen, dass Putin einen NATO-Beitritt der 7 Ukraine „niemals zulassen“ und als „Kriegserklärung“ ansehen würde. William Burns, der heute die CIA leitet und 2008 US-Botschafter in Moskau war, sah in seinem berühmten Memo an Außenministerin Condoleezza Rice kommen, was 2014 geschah: „Ein Beitritt der Ukraine zur NATO“, schrieb er, „ist für die russische Elite (nicht nur für Putin) die klarste aller roten Linien. In den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den dunklen Nischen des Kreml bis hin zu Putins schärfsten liberalen Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der Ukraine in die NATO als etwas anderes betrachtet als eine direkte Herausforderung für die russischen Interessen.“ Dies würde, warnte er, „als ein
strategischer Fehdehandschuh angesehen werden. Das heutige Russland wird darauf reagieren. Die russisch-ukrainischen Beziehungen würden auf Eis gelegt (…). Das würde einen fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der Ostukraine schaffen.“
Schon in den 1990er Jahren hatten viele amerikanische Politiker und Strategen Präsident Bill Clinton davor gewarnt, die NATO nach Osten zu erweitern. Darunter waren prominente
Persönlichkeiten des Establishments wie George Kennan, wie Clintons Verteidigungsminister William Perry und sein Generalstabschef John Shalikashvili, wie Paul Nitze, Robert Gates, Robert McNamara, Richard Pipes und Jack Matlock, um nur einige zu nennen. Ihnen war klar, dass Moskau darin eine existenzielle Bedrohung sehen würde und diese Politik eine Katastrophe riskierte. Doch obwohl Amerika selbst seit langem der
Monroe-Doktrin folgt, der zufolge keine entfernte Großmacht ein Bündnis mit einem Land in der westlichen Hemisphäre eingehen und dort Streitkräfte stationieren darf, konnten oder wollten die in Washington entscheidenden Kräfte und Personen diese Warnungen nicht ernst nehmen. Dabei blieb es sogar nach 2014.
10. Es geht Moskau noch immer zuerst um die Neutralität der Ukraine. Ob vor dem Krieg oder während der Gespräche kurz nach dessen Beginn: Die Russen haben immer deutlich gemacht, dass es ihnen zuerst um eine militärische Neutralität der Ukraine geht. Daran hat sich nichts geändert. Zuletzt hat Putin am 14. Juni 2024 zwei Forderungen formuliert, die erfüllt werden müssten, um einen Waffenstillstand zu vereinbaren und Verhandlungen einzuleiten. Eine davon war, dass Kiew „offiziell“ erklärt, „dass es seine Pläne, der NATO beizutreten, aufgibt“.
Nach zweieinhalb Jahren eines furchtbaren Krieges sind die Dinge komplizierter geworden als sie noch kurz nach dessen Beginn waren. Alle haben viel „investiert“ und erwarten nun
Ergebnisse. Nicht nur auf ukrainischer und westlicher Seite müsste zuerst Vertrauen aufgebaut werden, sondern auch in Moskau – nach dessen Erfahrungen etwa mit den Minsker Abkommen zur Befriedung des Donbas. Realistisch ist heute vielleicht nicht mehr
als ein fragiler Waffenstillstand und ein eingefrorener Konflikt. Doch alles ist besser als eine fortgesetzte Eskalation mit unzähligen Opfern und unüberschaubaren Risiken. Und wer
8
sine ira et studio auf die länger- und kurzfristige Vorgeschichte des Krieges sowie die bisherigen Versuche seiner Beilegung schaut, sieht immerhin eins: Entgegen der konventionellen Meinung wird in der Ukraine nicht – wie im Zweiten Weltkrieg – gegen den Versuch gekämpft, ein neues Großreich zu erobern. Sondern um eine konkrete, begrenzte und konsistent vorgebrachte politische Forderung.

John J. Mearsheimer lehrt seit 1982 Internationale Beziehungen an der Universität von Chicago. Zuvor absolvierte er die Militärakademie West Point und diente fünf Jahre als
Offizier in der US Air Force. Bekannt ist er nicht nur für sein schulemachendes Hauptwerk „The Tragedy of Great Power Politics“, sondern auch für politische Interventionen.

Dieser Artikel stammt aus Ausgabe 44/2024

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
Dieser Beitrag wurde unter Blog veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert