NATO-Osterweiterung Dohnanyi ZEIT Juni 2019
Nato-Osterweiterung: Russland im Visier
Wie der Westen sich Moskau wieder zum Gegner machte: Aktuelle Bücher über den diplomatischen Vorlauf der Nato-Osterweiterung.
Von Klaus von Dohnanyi
- Juni 2019, 16:55 Uhr Editiert am 24. Juni 2019, 18:32 Uhr DIE ZEIT Nr. 26/2019, 19. Juni 2019 21 Kommentare
Aus der ZEIT Nr. 26/2019
Nato-Osterweiterung: Ist ein neuer Kalter Krieg im Anzug oder doch nur Väterchen Frost? Der Kreml im November 2018
In der „National Defense Strategy 2018“ nimmt das Verteidigungsministerium der USA, neben Terrorismus und den üblichen „Schurkenstaaten“ Nordkorea und Iran, Russland und China ins Visier. Russland, vor kaum dreißig Jahren noch der erhoffte Partner der Neuen Weltordnung, ist wieder Feind Nummer eins der USA, ist wieder das traditionelle „evil empire“, wie fast immer seit mehr als 150 Jahren. An der Grenze der Ukraine zu Russland bestehen kriegsähnliche Zustände, militärische Einheiten aller Waffengattungen der Nato und Russlands begegnen sich in Osteuropa, im Schwarzen Meer und im Nahen Osten.
Klaus von Dohnanyi ist SPD-Politiker und war unter anderem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft
Im März 2019 erschienen zu dieser gefährlichen Entwicklung zwei wichtige Bücher: Russisches Roulette von Horst Teltschik, einst außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Kohl und später Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz; und The Back Channel, politische Erinnerungen von William Burns, unter anderem ehemaliger US-Botschafter in Moskau und später stellvertretender Außenminister der USA.
Horst Teltschik dokumentiert die Schritte vom Kalten Krieg durch eine kurze Phase der Entspannung hindurch zu einem neuen „Kalten Frieden“. Er beklagt, „in den heutigen Russland-Debatten dominieren holzschnittartige Sichtweisen“; die einen meinten, „der Westen hat sich in dieser Interpretation im Umgang mit Russland nichts vorzuwerfen (…). Die anderen sehen (…) Russland als (…) wehrloses Opfer (…) des Westens. Dieser habe durch die Nato-Osterweiterung seine 1990 gemachten Versprechen gebrochen.“ Teltschik schließt: „Beide Sichtweisen sind falsch.“
William Burns diente unter beiden Präsidenten Bush, unter Clinton und Obama; seine Arbeit wird von allen bewundert. Die Erinnerungen beeindrucken durch eine immer loyale Selbstkritik US-amerikanischer Politik. Auch er hält einseitige Schuldzuweisungen an Russland für unbegründet und berichtet kritisch über einen sinnlos verletzenden Umgang der USA mit russischen Interessen und Gefühlen nach 1990.
Drei Reflexe Russlands, darin sind sich beide Autoren einig, machten nach dem Ende des Kalten Krieges eine Verständigung mit dem Westen schwierig: das Selbstverständnis russischer Sicherheit; die gefühlte Missachtung russischer Interessen; und die „Würde“ Russlands. Aber im Mittelpunkt steht bei beiden Autoren immer wieder die Erweiterung der Nato auf Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes.
Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 26/2019. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Natürlich bereitet die Nato-Erweiterung keinen Überfall auf die Russische Föderation vor, aber Sicherheit ist auch ein Gefühl. Und es gab tatsächlich häufiger Angriffe des Westens auf Russland als umgekehrt: durch Karl XII., durch Napoleon, durch England und Frankreich im Krimkrieg mit der Zerstörung Sewastopols, durch US-Truppen im Bürgerkrieg 1922, durch Hitler. Könnte Putins These, die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen, auch Ausdruck eines russischen Gefühls verlorener Sicherheit sein? Hatte nicht auch Präsident Roosevelt 1945 vor dem US-Kongress erklärt, mit den geopolitischen Vereinbarungen von Jalta – die nun nach 1990 wieder aufgelöst wurden! – würde „ein stabileres politisches Europa bestehen als je zuvor“?
Russlands Würde? Teltschik verweist unter anderem auf den robusten Umgang mit Moskaus Interessen im Jugoslawienkrieg 1994, auf die Trennung Serbiens vom Kosovo oder auf die Äußerung Präsident Obamas, Russland sei schließlich nur eine „mittlere Regionalmacht“. Alles Nebensächlichkeiten? Wir wissen doch selbst aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, wie gefährlich Gefühle der Demütigung werden können!
So lud man Genscher einfach aus
„Verpasste Chancen, enttäuschte Liebe“, so überschreibt Teltschik die Jahre der Entfremdung in der Ära Jelzin. Man liest betroffen, wie oft der Westen die Konsequenzen für die russische Innenpolitik in seinen Entscheidungen unberücksichtigt ließ. Teltschik und Burns verweisen beide auf diese Mitverantwortung des Westens für die heutige Lage, wie übrigens auch Robert Hunter, der ehemalige Nato-Botschafter der USA (1993–1998), der 2015 in der Financial Times mit eingehender Begründung schrieb, die Hauptschuld treffe hier die USA, auch wegen der Expansion der Nato.
An dieser Stelle muss man eine weitere Quelle amerikanischer Forschung heranziehen: das Buch 1989 der Harvard-Professorin Mary Elise Sarotte. Seit der zweiten Auflage mit dem zweiten Nachwort (2014) ist heute unbestreitbar – wie, im Gegensatz zu Teltschik, auch Burns eindeutig bestätigt –, dass der US-Außenminister James Baker in seinen Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung mit Gorbatschow Anfang Februar 1990 vereinbarte, über die damaligen Ostgrenzen der DDR hinaus werde es keinerlei Erweiterung der Nato geben. Baker hielt dieses mündliche Versprechen in einer Notiz fest: „End result: Unified Ger. anchored* in a changed (polit.) NATO –* whose jurisd. would not move* eastwards!“ (Die Sternchen sind nach Sarotte als Hervorhebung gedacht; „jurisd.“ meint den rechtlichen Raum, in dem die Nato gelten soll.)
Sarotte berichtet auch die Antwort Gorbatschows: „Ganz gewiss wäre jede Erweiterung der Nato über ihren bisherigen Bereich inakzeptabel.“ Der Inhalt des Vermerks wurde einen Tag später in einem Brief an Bundeskanzler Kohl anlässlich dessen Besuchs in Moskau übermittelt. Sarotte geht deswegen wohl zu Recht davon aus, dass Gorbatschow und Kohl die von Baker eingegangenen Verpflichtungen auch ihren Beratungen zugrunde legten. Und aufgrund des amerikanischen Versprechens gab Gorbatschow dann Kohl die Zustimmung zur Währungsunion – und damit zur Wiedervereinigung.
Es bleibt unverständlich, warum Teltschik diese neuen Erkenntnisse verschweigt, wie übrigens auch die meisten deutschen Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigen. Präsident George H. W. Bush pfiff zwar seinen Außenminister gleich zurück: „Wieso, wir haben gewonnen und nicht die“, wusste aber auch, dass die Bundesregierung in Sachen Nato anderer Meinung war. Doch Kohl brauchte die USA angesichts des verzögernden Widerstands von Frankreich und Großbritannien in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung. So lud man bei den Beratungen auf Camp David Außenminister Genscher, den Gegner der Nato-Erweiterung, einfach aus und beschränkte die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eng auf die deutschen Fragen. Obwohl Baker doch auch den Auftrag von Bush hatte, „auf eine schnelle deutsche Vereinigung zu drängen (…) und dabei der Sowjetunion zu versichern, dass die Nato nicht weiter östlich erweitert werde“, so Burns.
Sarotte schreibt, wer die Entwicklung zwischen Washington und Moskau heute verstehen wolle, „sollte diese Sequenz der Ereignisse nicht aus den Augen verlieren“. Denn für die russische Seite blieb das eindeutige Versprechen des US-Außenministers Baker die vereinbarte Ausgangslage der weiteren Entwicklungen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch Burns und Teltschik ständig auf das Thema Nato zurückkommen müssen. Das gilt übrigens ebenso für die Memoiren (2002) von Strobe Talbott, dem Architekten der Russlandpolitik von Präsident Clinton. Dieser berichtet, Präsident Chirac habe sich noch 1997 beschwert, dass man die „Empfindlichkeiten“ Russlands und seine Gefühle der „Einkreisung“ und „Demütigung“ nicht berücksichtige. Und Burns schreibt, Jelzin habe einmal eine vom Westen geforderte Zustimmung zur Nato-Erweiterung als „Verrat an seinem Volk“ zurückgewiesen! Wenn also der 1990 stellvertretende Sicherheitsberater Gates später behauptete, man habe damals „die Sowjets bestochen“ („bribed“), indem man D-Mark aus Deutschland fließen ließ, so kann es ein solches Geschäft „Geld gegen Nato-Erweiterung“ schon wegen der von Anbeginn massiven russischen Kritik an der Nato-Erweiterung nie gegeben haben!
Hätte es zur Sicherung der osteuropäischen Staaten einen anderen Weg als den Nato-Beitritt gegeben? Burns hatte 1994 aus Moskau auf solche Möglichkeiten gedrängt und warnte eindringlich, ein unmittelbarer Nato-Beitritt könne erhebliche negative politische Folgen auslösen. So argumentierte im Juni 2015 auch der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, und forderte, der Westen solle endgültig auf den Nato-Beitritt der Ukraine verzichten und Lösungen suchen, wie sie zum Beispiel schon lange für das neutrale Finnland bestünden; auch Österreich, Schweden und Irland sind ja keine Nato-Mitglieder.
Internationale Politik wird nicht von Freundschaften getrieben
Sarotte ist einfach ehrlicher als Teltschik: Sie hat sich offen korrigiert, die nun aufgefundenen Fakten dargelegt. Und so rezensierte auch die New York Times: „Sarotte zeigt uns, es hätte auch anders verlaufen können.“ Anlässlich eines Vortrags im deutschen Generalkonsulat in New York bekannte Sarotte mutig, ihr sei es „um die Ehrlichkeit der amerikanischen Außenpolitik gegangen“. Vielleicht könnte das endlich auch für uns gelten?
Denn die Nato-Frage hat inzwischen auch das schwierigste Hindernis für eine Wiederbelebung der Entspannungspolitik geschaffen: die Annexion der Krim. 2008 wurde in Bukarest der Ukraine gegen den Rat Deutschlands und Frankreichs die Tür zur Nato weit geöffnet. Sarotte meint, „Besorgnis über die Nato war ein erheblicher Teil der Gründe“ für die Annexion. Auch diesmal hatte Burns vor den schwerwiegenden Folgen gewarnt, aber Bush und Cheney hätten die Entscheidung aus Gründen einer „legacy“, eines „Vermächtnisses“, der zu Ende gehenden Präsidentschaft George W. Bushs erzwungen. Sewastopol als möglicher Nato-Hafen für amerikanische Kriegsschiffe? Das war aus innenpolitischer und historischer russischer Sicht eine unannehmbare Perspektive: Tolstoi verteidigte Sewastopol im Krimkrieg 1854 (Sewastopoler Erzählungen); auch bei Puschkin, Tschechow, Brodski geht es immer wieder um die Krim. Natürlich rechtfertigt die historische Verbundenheit heute völkerrechtlich keine Annexion, aber hätte man nicht – wie Burns und Brzezinski anrieten – diese Kränkung der verwundeten Seele Russlands vermeiden und die Folgen voraussehen können?
Im Rückblick, schreibt Burns, war die Expansion der Nato „bestenfalls verfrüht und schlimmstenfalls eine sinnlose Provokation“. Und: „Wir müssen uns der Gefahren der Hybris und des amerikanischen Unilateralismus bewusst werden.“ Er meint damit aber nicht nur die Präsidentschaft Trumps! Er gräbt tiefer als Teltschik und erkennt in der amerikanischen Diplomatie einen grundsätzlichen Trend zu Nationalismus und Militarisierung. Auch George F. Kennan, der Architekt der „Eindämmung“ der Sowjetunion nach 1945, habe die „Militarisierung“ seines Konzepts bedauert.
Die Erinnerungen von Burns zeigen: Internationale Politik wird nicht von Freundschaften oder „Wertegemeinschaften“ getrieben, sondern von wahren oder vermeintlichen Interessen. Das hatten im Mai 2018 der damalige Sicherheitsberater Präsident Trumps McMasters und der Vorsitzende des Wirtschaftsrates Cohn so bestätigt: „Wer sich unseren Interessen anschließt, mit dem werden wir offen zusammenarbeiten (…). Wer aber entscheidet, unsere Interessen herauszufordern, der wird auf unsere entschiedene Entschlossenheit stoßen.“
Was sind aber diese Interessen der USA in Europa? Schon ein Blick auf den Globus macht klar, dass die geopolitischen Interessen der USA kaum mit den Interessen Europas übereinstimmen können: Europa hat eine Landgrenze mit Russland, die USA sind durch den Atlantik geschützt. Käme es jemals zu einem nicht nuklearen Konflikt in Europa, dann würde zwar Europa zerstört, aber kein Fußbreit der USA wäre verbrannt. „Privilegierte Zerstörung“ nannte einst der weitsichtige de Gaulle diese Form einer Verteidigung Europas durch die USA.
Was aber bindet dann die USA an Europa? Freundschaft? Werte? Was sind ihre wahren Interessen? Warum arbeiten sie, wie auch Burns beklagt, kaum an einer Entspannung? Warum vermitteln sie den Osteuropäern eher Ängste vor Russland, bemühen sich aber nicht erkennbar, diese Ängste durch Diplomatie abzubauen? Im Übrigen: Eine Politik, der es gelungen ist, das europäische Russland an die Seite Chinas zu drängen, verurteilt sich selbst.
Keiner hat die Frage der europäischen Interessen der USA offener beantwortet als Brzezinski. Dieser große geopolitische Denker der USA schreibt in seinem internationalen Bestseller The Grand Chessboard (1997), Europa sei „in erster Linie (…) Amerikas entscheidender geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent“, und begründet das an anderer Stelle, in Strategic Vision (2012), so: Würden die USA diesen Brückenkopf verlieren, so wäre „Amerikas Status als Weltmacht bedroht“. Was verteidigen also die USA in Europa – uns oder ihre geopolitische Weltmacht? Die politische Praxis der USA gibt leider eine allzu überzeugende Antwort!
Teltschik und Burns plädieren für eine diplomatische Offensive gegenüber Russland. Die USA werden unsere Interessen dabei kaum vertreten. Das müssten wir Europäer selbst übernehmen, mutig und risikobereit. Es wäre Frankreichs und Deutschlands vordringliche außenpolitische Aufgabe. Dafür müssen wir allerdings unsere eigenständige Verteidigung illusionslos stärken. Denn unser Interesse ist ein friedliches, sicheres, aber auch souveränes Europa.
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