Rexilius htps://wp.me/paI27O-43g, Günter Rexilius https://wp.me/paI27O-43g
Hervorhebungen von mir
Gesendet: Mittwoch, 10. August 2022 um 08:43 Uhr
Von: „Günter Rexilius“ <guenter.rexilius@t-online.de>
An: „helmut_kaess@web.de“ <helmut_kaess@web.de>
Betreff: Re: IPPNW Regio MG_VIE FFT
Lieber Helmut,
da Du immer interessiert bist, schicke ich Dir folgenden Vorgang:
In NRW veranstaltet die dfg-vk alljährlich eine FriedensFahrradTour, in diesem Jahr machten sie Station in Mönchengladbach, ich hatte ihren Aufenthalt hier organisiert und mich gefreut, dass sie herkommmen. Am 1. August weilten sie auf dem Rheydter Marktplatz und führten u.a. ein kleines Theaterstück auf, erstmals, wie Joachim, ihr Sprecher, erzählte.
Als Reaktion eines Mitgliedes unserer IPPNW-Regionalgruppe gab es die folgende Mail, die ich, obwohl im Urlaub in Polen, nicht unbeantwortet lassen konnte. Nach Herberts Mail meine Antwort, hier der Link zum Video:
https://youtu.be/4IVcTPbGTVc
Herzlichst Günter.
Am 07.08.2022 um 19:53 schrieb Herbert:
Die Kritik an dem Theaterstück: Der Ansatz zu dieser szenischen Darstaellung ist löblich und von gutem Willen getragen. Aber auch Agitprop muß faktenbasiert sein und daraus die Ziele des Handelns entwickeln. Am ukrainischen Volk zerren nicht Putin und Selenski von zwei Seiten, sondern Putin hat die Ukraine angegriffen, was Selenski einschließt. Putin entführt wehrlose UkrainerInnen nach Russland und versucht, den ukrainischen Staat Russland einzuverleiben. An der anderen Seite zerren an der Ukraine die USA mit ihrem Instrument, der NATO, und ihren Vasallen in der EU. Selenski und das ukrainische Volk werden für einen Stellvertreterkrieg der USA mit Russsland missbraucht. Das Theaterstück ist irreführend durch eine unzulässige Simplifizierung.
Schöne Grüße
Hallo Herbert,
aus dem Urlaub in Polen, ich wollte mich mal drei Woche nicht mit Politik befassen, aber die Kombination aus Deiner Mail und den Erfahrungen hier mit einem aggressiven Antikommunismus – den es seit Jahrzehnten gibt – und dem Vergessen der Gräuel, die Wehrmacht und SS hier angerichtet haben, beschäftigen mich. Ich will nur auf Deine Mail eingehen.
Ich stimme Dir zu, faktenbasiert ist nötig, wobei Agitprop künstlerische Freiheiten genießt, wie jede künstlerische Darstellung, insofern hast Du nur teilweise recht, die – oft kämpferische, manchmal utopische – Übertreibung ist ein typisches Merkmal. Das nur am Rande.
Meine Frage lautet: Meinst Du, es sei ok, wenn es um Fakten geht, einige herauszugreifen und auf ihrer Grundlage ein ziemlich abwertendes und, wie ich meine, verkürztes Urteil zu fällen? Ich zähle nur einige Fakten auf, die zu denen, die Du herausgreifst, m.E. ergänzt werden müssten, nicht unbedingt in zwingender chronologischer oder systematischer Reihenfolge:
USA Bombing list
Ukrainekrieg_Zeittafel
Fakt ist,
dass nach dem Ende der Sowjetunion der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, die Nato aber bestehen blieb, schon damals eine Fortsetzung des Kalten Krieges mit klarem Bedrohungspotenzial gegen Russland,
dass die Nato seit ihrem Bestehen, vor allem in den letzten Jahrzehnten, zu einem ausführenden Organ der USA-Politik wurde mit dem Ziel, deren Interessen weltweit durchzusetzen,
dass die etwa vierzig Kriege, die die USA seit Ende des 2. Weltkriegs geführt haben, durchweg gegen Staaten gerichtet waren, die sich diesen Interessen nicht beugen wollten (s.USA Bombing list),
dass Russland seit Jahrhunderten als Riesenreich mit schier unerschöpflichen Bodenschätzen und Absatzmärkten die Begierde der Reiche und Staaten im Westen geweckt hatten, mit den bekannten Ergebnissen,
dass Russland im 2. Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren hat, deren Kinder und Kindeskinder dieses Trauma noch in sich tragen und wissen, dass dem Westen nicht einen Zentimeter über den Weg zu trauen ist,
dass die Tatsache, dass in den letzten Jahren die Jahrestage der Befreiung vom Faschismus von westlichen PolitikerInnen russlandfrei begangen worden sind (nicht Fakt, sondern Hermeneutik: was probates Vergessen signalisiert, das wiederum für jahrhundertelang immer wieder Überfallene die Drohung des nächsten Versuchs gen Osten birgt),
dass Putin 2003 – nicht zuletzt auf diesem historischen und aktuellen Hintergrund – vor dem Bundestag eine eindringliche Rede gehalten hat, in der er darum warb, gemeinsam mit Deutschland eine gemeinsames friedliches Europa zu bauen, die folgenlos blieb,
dass Putin 2007 vor der Münchener Sicherheitskonferenz eine weitere Rede hielt, in der er um Frieden mit dem Westen warb, nicht ohne auf die russischen Sicherheitsinteressen hinzuweisen, und für sein Ansinnen verhöhnt und verlacht wurde, von führenden europäischen Politikern,
dass im September 2021 noch einmal eine Initiative von Russland an die USA ergriffen wurde, gemeinsam für eine Deeskalation im Donbass zu sorgen, nachdem 14.000 Tote dort, die zu Lasten der ukrainischen Armee gehen, und ständige Brüche der Waffenstillstandsabkommen durch sie – in den OECD-Protokollen nachzulesen – faktisch waren,
dass Anfang Februar 2022 noch eine Initiative zur Deeskalation von Russland ausging, die Biden und Blinken (Deutung: hochmütig) zurückwiesen,
das im Zuge der Auflösung der Sowjetunion Gorbatschow von hochrangigen westlichen Politikern versprochen wurde, die Nato werde sich nicht nach Osten ausdehnen,
dass nach der Annexion der DDR Bahr und Genscher das Versprechen abgaben, dass es keine Ausdehnung der Nato in das Gebiet der ehemaligen DDR und darüber hinaus geben werde,
dass nicht nur diese Versprechen gebrochen wurden, sondern alle Verträge mit Russland, die der Friedenserhaltung, dem Gleichgewicht der militärischen Kräfte, der Abrüstung oder der Rüstungskontrolle dienten, gebrochen oder aufgekündigt haben (Deutung: mit fadenscheinigen Gründen) (s. Anlage, Ukrainekrieg_Zeittafel),
dass Russland inzwischen von der Nato eingekreist ist, kommentiert etwa von Stoltenberg, die Nato bedrohe Russland nicht (Deutung: auf Deutsch sagt man „Verarschung“ dazu),
dass Selenskij auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2021 Atomwaffen forderte und den Beitritt der Ukraine zur Nato, ohne von einem einzigen – die EU eingeschlossen – Politiker oder einer Politikerin in den Schranken gewiesen zu werden,
dass am Vorabend des Krieges Ende Februar 70.000 ukrainische Soldaten an der Grenze zum Donbass aufmarschiert waren, Schüsse fielen, und aus Kiew Kriegsdrohungen kamen,
dass Selenskij nicht zuletzt gewählt worden ist, weil er den Ausgleich mit Russland versprochen hatte, kurz nach seiner Wahl aber auf Konfrontationskurs ging, Anfang dieses Jahres ein Gesetz in Kraft getreten ist, das Russisch aus dem öffentlichen Leben weitgehend verdrängt,
dass ich vor sieben Jahren bei einer Reise nach Kiew und Odessa erlebt habe, wie auf dem Maidan in Schaukästen Bandera und andere Faschisten gefeiert wurden, der ukrainischen Opfer an vielen Orten gedacht wurde und die Blumen und Bilder, die Russen für ihre Angehörigen, die 2014 starben, jeden Tag auf’s Neue anbrachten, nachts täglich wieder zerstört wurden und wie faschistische Milizionäre mit der Maschinenpistole im Anschlag vor russischen Banken standen, um Kunden den Zugang zu verwehren.
Diese – und sicherlich andere Fakten – sind zu bedenken, wenn man faktenbasiert argumentieren will.
Abgesehen davon, dass ein Satz wie „Putin entführt wehrlose UkrainerInnen nach Russland und versucht, den ukrainischen Staat Russland einzuverleiben“ kaum faktenbasiert zu nennen ist: Fakt ist lediglich, dass UkrainerInnen die Ukraine verlassen und nach Russland gehen, und Fakt ist, dass es diesen Krieg gibt, dessen Ziel nach Meinung aller mir bekannten internationalen ExperInnen – die mit Nato, UN und Geheimdiensten beste Erfahrungen haben – nicht wirklich klar ist.
Als Pazifist sind all das keine Gründe, einen Krieg zu beginnen, sage ich mir – und dann frage ich mich, ob ich es mir nicht zu einfach mache, als Sohn eines Wehrmachtssoldaten, der in Russland war und, wenn auch indirekt, an den barbarischen Verbrechen dort beteiligt war, und ich denke an die Frage der Prüfungskommission, als ich den Wehrdienst verweigerte, ob ich denn schießen würde, wenn jemand meine Freundin mit der Waffe in der Hand vergewaltigen würde, und ich sagte: Ja, würde ich. Vielleicht machen wir es uns zu einfach mit unserer Beurteilung. Was hätten wir getan, wenn die Nato ihre Raketen an der russischen Grenze abgefeuert hätten, auf Moskau und St. Petersburg? Wie viele von uns und allen anderen Friedensbewegten haben, trotz Jugoslawienkrieg und Agenda 2010 und seit vielen Jahren virulenten Russenhass von Bütikofer, Fücks, Marie-Luise Beck, Göring-Eckardt u.a., die Grünen gewählt, wohl wissend, damit sicherlich nicht den Frieden zu wählen?
Es gäbe noch viel zu sagen, aber ich möchte noch ein wenig Urlaub machen. Aus all diesen Überlegungen aber folgt, dass ich meine, dass Dein Statement „irreführend durch eine unzulässige Simplifizierung“ ist, weniger das Theaterstück. Es darf, ich wiederhole, als künstlerische Gestaltung eines realen Konflikts, ja es muss, simplifizieren. Aber führt es auch in die Irre und simplifiziert unzulässig?
Am 20.3.2022 sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu: „Wir sehen, dass die Parteien kurz vor einer Einigung stehen.“ Als Reaktion reisten Johnson, dann Blinken, dann Nuland und auch europäische PolitikerInnen, später dann Biden selbst nach Kiew, versprachen endlose Milliardenbeträge und die Ausrüstung mit immer schwereren und den neuesten Waffen und – Deutung – zwangen Selenskij, die Verhandlungen zu beenden. Die szenische Darstellung, dass der Westen – und auf der anderen Seite Russland – an ihm zerren, trifft diesen Sachverhalt, und dass die Rüstungslobby ihre Hände im Spiel hat und Druck macht, dürfte niemand bezweifeln – ich empfehle, Naomi Kleins „Schock-Strategie“ als Lehrbuch für amerikanische und Nato– und immer mehr auch EU-Politik.
Herzlichst Günter.
–Dr. Günter Rexilius Priv.Doz., Dipl.Psych. Psychol. Psychotherapeut Vereinsstr. 17 41189 Mönchengladbach Tel. +49 (0)2166-950545 (Praxis) Tel. +49 (0)2166-950544 (privat) Mobil 0157 37809086 www.psychotherapie-in-mg.de