Junge Welt vom 17.12.2020, “arabischer Frühling” und seine Instrumentalisierung

Schwerpunkt

Wiebke Diehl

Zehn Jahre »Arabischer Frühling«

Protest und Regime-Change

Zehn Jahre »arabischer Frühling«: Westen instrumentalisierte legitime Forderungen der Demonstrierenden für eigene Ziele

Man müsse jederzeit bereit sein, auf einen Regimewechsel in Syrien hinzuwirken, schrieb im Jahr 2006 der US-Diplomat William Roebuck in einer Ende August 2011 von der Plattform Wikileaks veröffentlichten Depesche an das Außenministerium in Washington. Darin erläuterte er von ihm ausgemachte Schwächen der Regierung von Baschar Al-Assad, deren großen Rückhalt in der Bevölkerung er zugleich einräumte. Dennoch könne man unter anderem die zunehmende Präsenz dschihadistischer Gruppen in Syrien für einen Regime-Change nutzen, genau wie den berechtigten Unmut der syrischen Kurden oder die Unzufriedenheit der Sunniten, die den zunehmenden iranischen Einfluss im Land ablehnten. Zudem empfahl Roebuck einen mit den Golfstaaten und Ägypten koordinierten medialen Aufbau oppositioneller Politiker, wie etwa des im Pariser Exil lebenden ehemaligen Vizepräsidenten Abd Al-Halim Khaddam.

In westlichen Medien fand das publizierte Dokument, das die sorgsam kultivierte Geschichtsschreibung vom selbstbestimmten Volksaufstand hätte in Frage stellen können, kaum Beachtung. Genausowenig thematisiert wurden dort bereits zu jenem Zeitpunkt von der bewaffneten Opposition verübte Anschläge auf syrische Einsatzkräfte, aber auch auf Zivilisten. Als die syrische Regierung die Vereinten Nationen um Unterstützung gegen terroristische Gruppen bat, wurde sie von den Regierungen der westlichen Industrienationen hämisch belächelt.

Ausgangspunkt Tunesien

Seinen Anfang nahm der sogenannte Arabische Frühling am 17. Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid. In einem Akt der Verzweiflung hatte sich dort der 26jährige Mohammed Bouazizi, der sich seinen Lebensunterhalt als Gemüsehändler verdiente, selbst mit Öl übergossen und angezündet. Bouazizi, der wenige Tage später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlag, wollte so gegen die Beschlagnahmung seines mobilen Marktstandes und seine anschließende Demütigung durch Polizisten protestieren.

Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeitsrate von 27,5 Prozent, staatlicher Repression und einer seit Jahren in Folge neoliberaler »Reformen« und aggressivem Freihandel wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, grassierender Korruption und Vetternwirtschaft schwappte die Welle der Solidarität mit Bouazizi schnell auf mehrere Städte über. Zehn Tage später wurden auf den Straßen der Hauptstadt Tunis soziale Gerechtigkeit, das Recht auf Arbeit und nachhaltige Entwicklung, aber auch Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gefordert.

Am 14. Januar 2011 floh Langzeitherrscher Zine El-Abidine Ben Ali außer Landes, und – ermutigt durch den tunesischen Erfolg – fanden auch im Jemen und Ägypten Ende Januar die ersten Proteste statt. Die sozioökonomische und politische Situation dieser Staaten war grob mit der Tunesiens vergleichbar, und auch hier wählten die Demonstranten eine rein friedliche Protestform, woraufhin sich die Armeen und Einsatzkräfte weigerten, weiter gegen die entschlossenen Massen vorzugehen. Mit Hosni Mubarak musste am 11. Februar des gleichen Jahres der zweite Langzeitherrscher und Bündnispartner des Westens seinen Platz räumen. Faktisch alle Länder der Region wurden von der »Arabellion« ergriffen.

Die Regierungen der westlichen Industrienationen, die – solange Mubarak oder Libyens Exstaatschef Muammar Al-Ghaddafi Geflüchtete von Europa fernhielten – jahrzehntelang ihre Augen vor den eklatanten Menschenrechtsverletzungen, vor Korruption und Nepotismus verschlossen hatten, jubelten auf einmal der arabischen Straße zu. Statt ihre langjährigen »Partner« zu schützen, intensivierten sie ihre seit längerem existierende Kontakte zu den jeweiligen Militärführungen. Offensichtlich sahen sie keine Möglichkeit mehr, den Sturz der Herrschenden aufzuhalten. Gleichzeitig wollten sie bestehende Systeme erhalten und ihren Einfluss wahren. Vor allem aber sahen sie die Gelegenheit, langgehegte Regime-Change-Pläne aus den Schubladen zu ziehen und ihnen nicht genehme Regierungen zu stürzen.

Es war kein Zufall, dass sich anders als in Tunesien, Ägypten oder den Golfstaaten ausgerechnet die Opposition in Libyen, dessen Staatschef Al-Ghaddafi zwar eng mit dem Westen kooperierte, für diesen aber immer äußerst unberechenbar blieb, zügig bewaffnete. Auch wurde bei den Protesten in Libyen anstelle der Nationalflagge das Symbol der 1969 gestürzten Monarchie getragen. Anders als den in der bahrainischen Hauptstadt Manama Mitte März mit Hilfe saudischer Panzer brutal zurückgeschlagenen Demonstranten kam der libyschen Opposition zudem das westliche Militärbündnis NATO »zu Hilfe«. Ghaddafi hatte nämlich geplant, eine goldgedeckte Währung einzuführen, über die afrikanischen Staaten ihre Ölverkäufe abwickeln könnten – statt mit US-Dollar. Zudem sollte eine libysche Zentralbank gegründet werden, um unabhängig von der Politik der französischen Nationalbank zu werden.

Ohne Zweifel regierte Al-Ghaddafi das Land autoritär und ließ die Proteste niederschlagen. Zugleich hatte er aber die Bevölkerung mit frei zugänglichem Wasser, stark subventioniertem Benzin sowie kostenloser Bildung versorgt, was die Bereitschaft, für seinen Sturz auf die Straße zu gehen, gesenkt hatte. Das machte eine »schlagkräftige« Opposition »nötig«, die das Land gemeinsam mit der NATO in ein bis heute anhaltendes Chaos stürzte.

Syrien im Fokus

Das Hauptaugenmerk der Regime-Changeler lag indes auf Syrien. Zwar hatten die westlichen Industrienationen ihre Beziehungen zu Damaskus seit der Präsidentschaft Assads im Jahr 2000 kontinuierlich intensiviert. Als Teil der »Achse des Widerstands« mit dem Iran, der libanesischen Hisbollah und inzwischen auch dem Irak aber blieb die Regierung Assad ein Hindernis für die geplante »Neuordnung des Nahen Ostens« inklusive der angestrebten Ausweitung westlicher Kontrolle über vorhandene Energieressourcen und die zugehörigen Transportwege. Außerdem weigerte sich Assad, Frieden mit Israel zu schließen und die von Tel Aviv besetzten, strategisch wichtigen Golanhöhen aufzugeben. Die oben zitierte Depesche Roebucks ist nur ein Beleg unter vielen, dass man in den westlichen Hauptstädten 2011 sehnlichst darauf wartete, dass auch die Syrerinnen und Syrer endlich auf die Straße gehen würden.

Und tatsächlich gab es so einige Gründe: Fünfzehn Geheimdienste unterdrückten jegliche politische Opposition im Land. Die kurdische Bevölkerung forderte schon seit langem ihre legitimen bürgerlichen und kulturellen Rechte ein. Neoliberale »Reformen« hatten viele mittelständische Betriebe ihrer Existenzgrundlage beraubt und das Stadt-Land-Gefälle verschärft. Die durch eine mehrjährige Dürreperiode verstärkte Landflucht hatte den Preis für bezahlbaren Wohnraum in den städtischen Ballungsgebieten ins Unermessliche getrieben.

Zugleich aber stellte nur eine kleine Minderheit das säkulare politische System in Frage, und viele Syrerinnen und Syrer fürchteten um die religiöse Koexistenz im Falle eines Regierungssturzes. Außerdem wollten sie das gut ausgestattete Bildungs- und Gesundheitssystem nicht missen. Spätestens als über Jordanien eingeschleuste bewaffnete radikale Kräfte sowohl auf syrische Polizisten als auch auf Zivilisten schossen, um die Situation eskalieren zu lassen, zogen sich die Demonstranten von der Straße zurück.

Ende Juli gründeten sieben desertierte syrische Soldaten die »Freie Syrische Armee«, die schnell von radikalen Kräften dominiert wurde. Vom US-Auslandsgeheimdienst CIA sowie der türkischen, saudiarabischen und katarischen Regierung mit schweren Waffen hochgerüstet und im Rahmen von Milliarden US-Dollar und Euro teuren Programmen von Washington und Paris ausgebildet, stürzte sie gemeinsam mit den noch radikaleren Kräften wie der Nusra-Front und dem »Islamischen Staat« das Land in einen inzwischen fast zehnjährigen Krieg. Bis heute flankieren ihn die westlichen Regierungen mit »diplomatischer« Propaganda, unabhängig von Indizien und Beweisen der syrischen Regierung zugeschriebenen Chemiewaffenangriffen, der politischen Instrumentalisierung humanitärer Hilfe, tödlichen Wirtschaftssanktionen und direkter militärischer Intervention.

nach oben


nach oben Schwerpunkt

Wiebke Diehl

Zehn Jahre »Arabischer Frühling«

Die »Revolution« frisst ihre Kinder

Zehn Jahre nach Beginn des »arabischen Frühlings« bleiben Forderungen der Demonstrierenden unerfüllt

Nicht nur in Libyen, Syrien und dem Jemen, wo der seit über fünf Jahren von einer saudiarabisch geleiteten Militärkoalition geführte Krieg die schlimmste humanitäre Katastrophe unserer Zeit verursacht hat, ist von den Zielen des »arabischen Frühlings« kaum eines verwirklicht worden. Sowohl die Menschenrechtslage als auch die soziale Situation bleiben im Nahen und Mittleren Osten fatal. Nicht nur in Ägypten sind Folter, willkürliche Verhaftungen, Gefangenschaft ohne Anklage und unter unzumutbaren Bedingungen, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, fehlender Schutz vor Menschenhandel, häuslicher Gewalt oder Genitalverstümmelungen an der Tagesordnung. Auch hat die Verfolgung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten in den meisten Ländern der Region in den vergangenen zehn Jahren noch zugenommen.

Die Korruption ist immer noch weitverbreitet, und der Lebensstandard ist bei steigenden Arbeitslosenraten noch weiter gesunken. Nach Angaben der Weltbank beläuft sich die Jugendarbeitslosigkeit in der Region inzwischen auf knapp 27 Prozent – die höchste weltweit. Allein in Ägypten lebt heute jeder dritte unter der Armutsgrenze und muss mit weniger als 1,30 US-Dollar am Tag auskommen. Die Kriege haben Millionen von Menschen zu Flüchtlingen gemacht und sie ihres gesamten Hab und Guts beraubt. Einzig das Ziel, mehr Frauen in politische Führungspositionen zu bringen, ist zumindest in geringem Maße erreicht worden, wobei dies nicht gleichermaßen für alle Länder der Region gilt.

Die Forderungen nach Würde, politischer Teilhabe, demokratischen Freiheiten sowie einem Ende von Korruption und Nepotismus sind heute so aktuell wie vor zehn Jahren. Und so mag es kaum verwundern, dass es in den letzten Jahren wieder vermehrt zu Protesten in unterschiedlichen Ländern der Region gekommen ist, sei es im Sudan, in Algerien, im Libanon und dem Irak, aber auch vereinzelt in Marokko, Jordanien, Ägypten und den Golfstaaten.

Während aber im Zentrum der Proteste von 2010 und 2011 zunächst eine Verbesserung der Lebensverhältnisse sowie die Forderung nach demokratischen Rechten stand und sich der Ruf nach einem Sturz der jeweiligen Regierungen erst im Laufe der Massendemonstrationen entwickelte, zeichnen sich die neueren und aktuellen Proteste durch eine fundamentale Vertrauenskrise aus, nicht nur, was die Herrschenden, sondern auch, was die politischen Systeme angeht. Da die Vergangenheit gezeigt hat, dass ein alleiniger Austausch von Köpfen keine tiefgreifende Änderung der Lebenssituation mit sich bringt und letztlich alles beim Alten geblieben ist, wird insbesondere im Irak und dem Libanon, wo politische Posten nach einem besonders korruptionsanfälligen konfessionellen Proporz vergeben werden, die Abschaffung des gesamten »Systems« gefordert. Zugleich wird aber keine umsetzbare Alternative vorgelegt. Dass dies ausländischer Einmischung und auch der Umsetzung möglicher Regime-Change-Pläne Tür und Tor öffnet, hat sich insbesondere im Libanon gezeigt.

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
Dieser Beitrag wurde unter Blog veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert