Gesendet: Donnerstag, 22. Dezember 2022 um 23:41 Uhr
Von: barbara
An: „Intern%attac_ag_guk“ <intern%attac_ag_guk@gmx.de>
Betreff: K. Leukefeld: Friedensbewegung zersplittert und zerstritten
Ein interessantes Interview mit der Politikwissenschaftlerin und
Journalistin Karin Leukefeld.
Viele Grüße
Barbara
https://meinungsfreiheit.rtde.life/international/157601-politikwissenschaftlerin-leukefeld-erlebe-friedensbewegung-zersplittert/
[1]
20.12.2022
Politikwissenschaftlerin Leukefeld:
Erlebe Friedensbewegung zersplittert und zerstritten
Die Journalistin Karin Leukefeld spricht über ihre Einschätzung der
deutschen Friedensbewegung. Sie bewertet die Vorgeschichte des
Ukrainekriegs, die westliche Propaganda und auch die Zerstrittenheit der Friedensbewegung. Nach zwei Kriegen gegen Russland und die Sowjetunion habe die deutsche Friedensbewegung eine besondere Verantwortung.
_Das Interview mit der Politikwissenschaftlerin und Journalistin Karin Leukefeld zur deutschen Friedensbewegung führte Felicitas Rabe._
_RT:__ Frau Leukefeld, am zweiten Dezemberwochenende fand in Kassel der 29. Friedensratschlag statt. Wie haben sich Vertreter der deutschen Friedensbewegung zum Krieg in der Ukraine positioniert? Wie bewerten Sie das Meinungsspektrum in der deutschen Friedensbewegung in Bezug auf Analyse und Hintergrund des Krieges in der Ukraine?_
KL: Sehr viele Menschen waren zu dem „Friedensratschlag“ gekommen, das ist sicherlich ein Erfolg. Auf den Podien wurde der Krieg natürlich verurteilt. Auch wenn es gute und ausführliche Analysen über den Hintergrund und die Vorgeschichte dieses Krieges gab, wurde doch immer wieder betont, dass Russland oder auch der russische Präsident Putin verantwortlich seien und dass es sich um einen „Aggressionskrieg“ handele.
Mich irritiert das, weil sich diesbezüglich die offiziellen
Stellungnahmen der deutschen Friedensbewegung nicht wesentlich von dem unterscheiden, was vom ersten Tag an einstimmig über die großen Medien und von der Scholz-Regierung verlautbart wurde. Geradezu reflexartig werden die staatlichen und medialen Anschuldigungen wiederholt, selbst in Gesprächen unter Freunden. Damit wird jede Kritik an der Haltung von Bundesregierung, EU und NATO – vor und nach dem militärischen
Eingreifens Russland – abgeschwächt und relativiert.
Es scheint, als sei der Friedensbewegung ein wesentlicher Kompass abhandengekommen, den Christa Wolf in ihrem Buch Kassandra einmal so beschrieben hat: _“Wann der Krieg beginnt, kann man wissen, aber wann beginnt der Vor-Krieg. / Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. / In Ton, in Stein eingraben, sie überliefern. / Was stünde da. Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“_
„Die Eigenen“ – die Bundesregierungen unter Merkel und Scholz, Medien,
ehemalige Linke, Grüne, Sozialdemokraten und Friedensaktivisten, die in
Parteien, in Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen, im Bundestag
oder über das EU-Parlament großgeworden sind – haben die
Öffentlichkeit getäuscht. Die NATO und die EU-Kommission sind seit
2014 im Gleichschritt auf US-Kurs und haben sich politisch, militärisch
und medial gegen Russland aufgerüstet. Ich sage ausdrücklich
„EU-Kommission“ und nicht „europäische Staaten“. Die haben
außenpolitisch meist andere Interessen und werden – einschließlich den
neutralen Staaten Österreich und Schweiz – immer mehr in die
Gefolgschaft gezwungen.
Die Friedensbewegung hat diese Entwicklung in ihrer Tragweite nicht
erkannt, die Gefahr nicht verstanden oder nicht ernst genommen, obwohl
die Vorgeschichte von NATO- und EU-Osterweiterung bekannt war. Die
Aufrüstung der osteuropäischen Staaten, auch der Ukraine, war bekannt.
US-Truppentransporte liefen ungebremst wieder von West nach Ost durch
Deutschland, Proteste und Versuche, diese Transporte mancherorts zu
stoppen, blieben vereinzelt und erfolglos. Es war bekannt, dass die NATO
im Jahr 2022 von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer Manöver entlang der
Grenze zu Russland geplant hatte, die nahezu nahtlos ineinander
übergingen.
Ein Redner in Kassel sagte, der Krieg sei die „Antwort auf eine
tatsächliche Bedrohung“ gewesen. Und ja, für Russland war die
Entwicklung eine Provokation, nachdem es seit Jahren gefordert hatte,
dass es Verhandlungen über eine europäische Sicherheitsstruktur geben
müsse. Das war Thema eines Gipfeltreffens zwischen Washington und
Moskau in Genf im Juni 2021, über das breit berichtet worden war. Vor
genau einem Jahr, am 17. Dezember 2021 veröffentlichte Moskau den Text
eines Schreibens an die USA und die NATO, in dem ein Neutralitätsstatus
für die Ukraine und ein Stopp der militärischen Ausweitung und
Aktivitäten der NATO in Osteuropa und in der Ukraine gefordert wurden.
Russland wollte „legal bindende Garantien“, darunter die Zusage, dass
weder die Ukraine noch andere ehemalige Republiken der UdSSR in die NATO
aufgenommen würden. Die USA wie die EU wiesen diese Vorschläge zurück
und waren nicht einmal bereit, darüber zu verhandeln.
Krieg gab es in der Ukraine seit 2014. Der Krieg im Donbass und die
Russland- und Russen-feindlichen politischen Entscheidungen in der
Ukraine – vieles deutete auf die Verschärfung des Klimas in der Region
hin. Dazu kam die Dämonisierung Russlands und des russischen
Präsidenten in Politik und Medien in Deutschland, das Verbot russischer
Medien – ich kann mich nicht erinnern, dass die Friedensbewegung sich in
den letzten acht Jahren mit diesen Entwicklungen intensiv befasst und
von den westlichen Regierungen einen sichtbaren und deutlichen
Verhandlungswillen mit Russland gefordert hätte.
_RT:__ Auf der Konferenz konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich
die deutsche Friedensbewegung mehr oder weniger mit dem
Mainstream-Narrativ vom „völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg“
einig ist. Dabei wurde im Vorfeld der Konferenz eine Analyse von Doris
und George Pumphrey veröffentlicht, die dieses Narrativ in Frage
stellt. Schließt sich die Mehrheit der Friedensaktivisten der
Darstellung in den Medien tatsächlich an? Warum wurde darüber so wenig
diskutiert?_
KL: Die Pumphrey-Analyse [2] war m.W. kein Thema auf der Konferenz. Ich
weiß nicht, ob sie auslag oder verteilt wurde. (Ich habe es jedenfalls
nicht gesehen.) Es war auch keine Arbeitsgruppe dazu vorgesehen, in der
ein Rückblick auf die Arbeit der Friedensbewegung hätte diskutiert
werden sollen. Dabei wäre eine Analyse der Geschichte in und um die
Ukraine dringend notwendig. Die Entwicklungen in der Ukraine nach 2014
scheinen bei der Friedensbewegung und vielen Linken wenig bekannt zu
sein.
Es gibt auch keine Diskussion über den Artikel 51 der UN-Charta [3],
das „naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven
Selbstverteidigung“, auf das sich Russland mit der Militäroperation ja
beruft. Es gibt keine Debatte über die Bedeutung von staatlicher
Neutralität und deren Bedeutung für Frieden. Ein Redner in Kassel
sagte während der Ukraine-Debatte, USA und NATO hätten die
Vertragsentwürfe Russlands (vom Dezember 2021) nicht einmal angesehen,
denn „der Krieg war gewollt“, sagte er. Vielleicht stimmten viele der
Teilnehmenden dem sogar zu, aber es werden offenbar keine Konsequenzen
aus dieser Erkenntnis gezogen.
_RT:__ Gibt es über den Ukrainekrieg weitere Kontroversen in der
Friedensbewegung? Worum geht es da und wo werden die Diskussionen
geführt?_
KL: Ich erlebe die Linke und die Friedensbewegung in Deutschland
zersplittert und zerstritten. In einem lokalen Friedensbündnis hörte
ich, dass jemand vorschlug, eine interne Diskussion darüber zu führen,
wie der Krieg in der Ukraine und das Verhalten Russlands
völkerrechtlich zu bewerten seien – ob es sich wirklich um einen Bruch
des Völkerrechts handele. Allein der Vorschlag stieß schon auf
Ablehnung. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die bekannten
Sprecher von großen Friedensorganisationen in der Öffentlichkeit immer
wieder einen „russischen Angriffskrieg“ verurteilen und sagen, dieser
sei „völkerrechtswidrig“. Damit werden notwendige Debatten in lokalen
Bündnissen gestoppt.
„Russland trägt Verantwortung und auch die NATO trägt Verantwortung,
wie kommen wir da raus“, fragte ein Redner in Kassel. Ich bin
überzeugt, USA und NATO wissen genau so gut wie Russland, welche
Auswege es gibt. Russland hat sehr genau seine Forderungen genannt, aber
was soll es tun, wenn der Westen das ignoriert? Nur mal zur Erinnerung:
Unmittelbar nach Beginn des Krieges begannen direkte Verhandlungen
zwischen Russland und der Ukraine, und im April lag daraufhin eine
vorläufige Verhandlungslösung auf dem Tisch.
Doch dann intervenierte Großbritannien in Person des damaligen
Premierministers. Boris Johnson reiste nach Kiew und erklärte der
Ukraine, dass es keine Verhandlungslösung geben solle. Das ging
international durch die Medien – und damit weiß die Friedensbewegung
doch, was zu tun ist. Ihr Adressat ist die Bundesregierung und das
westliche NATO-Bündnis, die offenbar nicht an einer Lösung
interessiert sind.
_RT:__ Welche Forderungen sollten Ihrer Meinung nach von der
Friedensbewegung gestellt werden? Wie bewerten Sie die Standpunkte und
Aktionen in der deutschen Friedensbewegung? Welche Chancen sehen Sie
aktuell in der deutschen Friedensbewegung und ihrem Einfluss auf die
deutsche Politik? _
KL: Ich arbeite seit vielen Jahren in Ländern des Mittleren Ostens in
der arabischen Welt und habe Krisen und Kriege erlebt und sehe, welche
Folgen das auf die Bevölkerung hat. Hintergrund der Kriege gegen Irak,
in Libyen, Syrien, Jemen, die anhaltende Besatzung palästinensischen
und arabischen Bodens durch Israel – alles das hat viel mit den
westlichen Interessen in der Region zu tun.
Die USA und auch die EU sprechen vom „Greater Middle East“ (Großraum
Mittlerer Osten), das ist eine geostrategische Bezeichnung für die
Region von Zentralasien über Iran, die arabische Halbinsel, die Türkei
und Nordafrika und umfasst den Indischen Ozean, den Persischen Golf, das
Rote Meer, den Suezkanal, das Kaspische und das Schwarze Meer, das
südliche Mittelmeer bis zum Atlantik. Waffenlieferungen, finanzielle
Hilfen, einseitige wirtschaftliche Strafmaßnahmen/Sanktionen und
sogenannte „sanfte Machtinterventionen“ (Soft Power Interventions) mit
„Hilfs- und Demokratisierungsprogrammen“ von
Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen schränken die souveräne
politische, soziale und kulturelle Entwicklung in den dort liegenden
Ländern ein und spalten die Bevölkerungen.
Millionen Palästinenser leben seit Generationen in Lagern, weil Israel
von seinen Verbündeten im Westen nicht zur Anerkennung eines
palästinensischen Staates gezwungen wird. Politische und soziale
Konflikte und Entwicklungen, die gesellschaftlich und innenpolitisch in
jedem einzelnen Land gelöst werden müssen und auch können, werden von
den USA, der EU und Israel mit wechselnden regionalen Partnern für ihre
geopolitischen Interessen instrumentalisiert.
Ob das Kopftuch der iranischen Frauen, die Freilassung von Gefangenen
in Syrien, die Rechte der schiitischen Muslime im Irak unter Saddam
Hussein, der Kurden in Syrien, Irak, Iran oder in der Türkei, der
asiatischen Gastarbeiter in Katar oder anderen Golfemiraten – die
Entwicklung zeigt uns, dass es nur vordergründig um Menschenrechte und
Demokratie, tatsächlich aber um Geopolitik geht.
Es geht um Rohstoffe, um die Kontrolle von Transportwegen, um die
Konfrontation mit Staaten und Regierungen, die andere politische
Vorstellungen haben, als die USA, die EU oder Deutschland. Die westliche
Politik im Mittleren Osten, auch das Vorgehen Deutschlands, wird immer
häufiger als „eurozentristisch“ und „neo-kolonial“ charakterisiert.
Darum wenden sich die Länder von den USA und der EU oder Deutschland ab
und sie wenden sich – über alle mögliche Skepsis hinweg – Russland und
China zu.
Die Friedensbewegung scheint diese Entwicklung nicht richtig verstanden
zu haben. Seit dem weltweiten Protest gegen die völkerrechtswidrige
US-geführte Invasion in den Irak (2003) hat es nie wieder große
Proteste gegen die Verwüstung einer ganzen Region gegeben. Die
analytische Schwäche über die Zielsetzung der Politik der eigenen
Regierung und deren Position in westlichen Bündnissen ist m.E. eine der
Ursachen, warum die Friedensbewegung auch jetzt in der aktuellen
Konfrontation so schwach ist.
Dabei hat die deutsche Friedensbewegung doch auch eine historische
Verantwortung. Deutschland führte im 20. Jahrhundert zwei Kriege gegen
Russland und die Sowjetunion, die es verlor und dabei weite Teile
Europas verwüstete. Die deutsche Friedensbewegung hat die
Verantwortung, für Frieden und für Freundschaft mit Russland und für
die Selbstbestimmung aller Länder auf die Straße zu gehen.
_Karin Leukefeld_ [4]_ ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin.
Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als freie Korrespondentin im Nahen
Osten. Zuletzt veröffentlichte sie 2016 das Buch „Syrien zwischen
Schatten und Licht: Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land“ mit
Geschichten und Geschichte von 1916 bis 2016._
MEHR ZUM THEMA – Reflexionen über Positionen und Strategien der
deutschen Friedensbewegung [5]
Links:
——
[1]
https://meinungsfreiheit.rtde.life/international/157601-politikwissenschaftlerin-leukefeld-erlebe-friedensbewegung-zersplittert/
[2]
https://pressefreiheit.rtde.tech/international/155707-wer-ist-aggressor-friedensbewegung-und/
[3] https://unric.org/de/charta/
[4] https://leukefeld.net/
[5]
https://pressefreiheit.rtde.tech/meinung/157450-reflexionen-ueber-positionen-und-strategien-der-deutschen-friedensbewegung/