Der Trugschluss der Abschreckung, Kati Juva

Der Trugschluss der Abschreckung, Aussage der IPPNW Co-Präsidentin Kati Juva  https://wp.me/paI27O-5bY

Der Trugschluss der Abschreckung
JANUAR 5, 2024
tags: katastrophale humanitäre Folgen, Atomwaffenverbotsvertrag, nukleare Abschreckung, Atomwaffen
von IPPNW
von Kati Juva

Die Idee der Abschreckung besteht darin, dass der Gegner, wenn er weiß, dass er für sein unerwünschtes Verhalten (Einsatz von Atomwaffen) sehr hart bestraft werden kann (Gegenschlag), eine rationale Entscheidung treffen wird, die unerwünschte Handlung nicht auszuführen. Andernfalls würde auch er vernichtet werden.

Dies ist das Mantra aller Atomwaffenstaaten seit Beginn des atomaren Wettrüstens. Dass Atomwaffen tatsächlich den Frieden zwischen den Atommächten sichern, wenn niemand es wagt, sie einzusetzen.

Leider hat diese Argumentation schreckliche Mängel.

Es ist bemerkenswert, dass die zweite Tagung der Vertragsstaaten des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) dieses Sicherheitsparadigma der nuklearen Abschreckung in Frage gestellt hat. Ich hoffe, dass dies auf dem 3. TPNW-Treffen im März 2025 noch deutlicher zum Ausdruck kommen wird.

Eines der Probleme mit der Abschreckung liegt darin, dass sie davon ausgeht, dass die Entscheidungsträger immer rational handeln – dass verschiedene Staaten und Parteien Werte, Bedrohungen und mögliche Folgen auf dieselbe Weise abwägen. Ein Großteil des Nukleardiskurses basiert auf Mehrdeutigkeit und sogar Bluff. Der Gegner wird nie wirklich wissen, wo die “rote Linie” verläuft, die man nicht ohne Gegenmaßnahmen überschreiten kann. Man kann eigentlich nie sicher sein, ob die Abschreckung funktioniert oder nicht – bis sie nicht mehr funktioniert.

Es ist auch sehr gefährlich, sich darauf zu verlassen, dass die politischen Führer immer rational sind und die Vor- und Nachteile einer Handlung ausgewogen und weitsichtig abwägen. Die Todesstrafe hat es nicht vermocht, Tötungsdelikte zu verhindern.

Die Entscheidungsträger können und werden wahrscheinlich auch psychisch stark belastet sein, wenn die politische Atmosphäre angespannt ist und große Auswirkungen auf dem Spiel stehen. Sie können fehlgeleitet sein, unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen stehen. Das Schicksal der Menschheit sollte niemals in die Hände von wenigen – oder gar nur einer Person – gelegt werden. Früher oder später kann jemand so unausgeglichen oder verzweifelt sein, dass er/sie einen verhängnisvollen Fehler in Bezug auf einen Atomangriff begeht.

Je länger wir Atomwaffen haben, desto größer ist das Risiko, dass etwas tödlich schief geht. Es hat Dutzende von Beinaheunfällen gegeben, bei denen nur durch Glück und besonnene Offiziere der Ausbruch eines Atomkriegs verhindert werden konnte. Manchmal war es ein technischer Defekt, manchmal ein menschliches Missverständnis. Aber wie der UN-Generalsekretär António Guterres sagte, ist Glück keine Strategie.

Obwohl die derzeitigen Atomwaffenarsenale weniger als ein Fünftel der Zahlen aus dem Kalten Krieg betragen, ist ihre Overkill-Kapazität immer noch enorm. Ein Atomkrieg, bei dem nur 2 % der gesamten Atomwaffen zur Explosion gebracht werden, würde eine nukleare Hungersnot auslösen, bei der zwei Milliarden Menschen vom Verhungern bedroht wären. In meinem Heimatland, Finnland, würde niemand eine solche Katastrophe überleben. Selbst ein so genannter Erstschlag mit z.B. 250 Atomsprengköpfen ohne Gegenschlag würde die Nahrungsmittelproduktion des eigenen Landes und damit die gesamte Gesellschaft zum Erliegen bringen. Ein groß angelegter Atomkrieg zwischen den USA und Russland, bei dem Tausende von Sprengköpfen gezündet würden, würde einen nuklearen Winter und die mögliche Auslöschung der Menschheit verursachen.

Dennoch gehen die Abschreckung und das atomare Wettrüsten weiter, weil es für viele Menschen nützlich ist. Es gibt viele Unternehmen, die als Teilnehmer der Atomwaffenindustrie wirtschaftlich profitieren. Atomwaffen können aber auch Staaten mehr Spielraum geben, um eine aggressive Politik zu betreiben und andere davon abzuhalten, sie anzugreifen. Der Irak wurde besetzt, aber Nordkorea ist immer noch unabhängig. Und es ist klar, dass ein atomar bewaffneter Staat Russland in die Lage versetzt hat, die Ukraine anzugreifen. Die Angst vor einer nuklearen Eskalation hat die NATO daran gehindert, die Ukraine direkt zu verteidigen, obwohl Waffen geliefert wurden.

Atomwaffen haben also den Krieg in Europa ermöglicht und nicht verhindert oder zur Erhaltung des Friedens beigetragen, wie es das Mantra der Abschreckung besagt. Im Gegenteil, viele Kriege und Besetzungen mit geringerer Intensität wurden möglich, weil Länder, die Atomwaffen besitzen, mit deren Einsatz gedroht haben, wenn sie daran gehindert werden.

Es ist wichtig, den Trugschluss der Abschreckung zu entlarven. Wir müssen über die humanitären Folgen von Atomwaffen sprechen, um den Entscheidungsträgern klarzumachen, dass Atomwaffen unter keinen Umständen eingesetzt werden dürfen. Aber wir müssen die Entscheidungsträger auch über die enormen Risiken der Abschreckung aufklären. Es gibt und kann keinen Beweis dafür geben, dass Abschreckung auf Dauer funktioniert. Es ist ein fataler Fehler, unsere gesamte Existenz auf die Rationalität und Vernunft von Entscheidungsträgern und die Unfehlbarkeit der Technik zu vertrauen. Glück ist keine Strategie.

Dr. Juva ist Co-Präsidentin der IPPNW aus Finnland. Sie ist Fachärztin für Neurologie und Universitätsdozentin am Zentralkrankenhaus der Universität Helsinki, Abteilung für Psychiatrie. Außerdem ist sie stellvertretende Stadträtin (Grüne) in der Stadt Helsinki.

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https://peaceandhealthblog.com/2024/01/05/the-fallacy-of-deterrence/

The fallacy of deterrence

JANUARY 5, 2024

by Kati Juva

The idea of deterrence is that when the adversary is aware of your capacity to punish it very forcefully (to make a counterstrike) for its unwanted behaviour (using nuclear weapons), they will make a rational decision not execute the unwanted act. Otherwise, they would also be destroyed.

This has been the mantra of all nuclear weapons states since the beginning of the nuclear arms race. That nuclear arms actually safeguard the peace between nuclear powers, when no one dares to use them.

Unfortunately, there are terrible flaws in this reasoning.

It is noteworthy that the 2nd Meeting of States Parties of the Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW) challenged this security paradigm of nuclear deterrence. I hope this will be even more powerfully visible in the 3rd meeting of TPNW in March 2025.

One of the problems with deterrence lies in the fact that it relies on decision makers being always rational—that different states and parties weigh values, threats and possible consequences in the same way. Much of the nuclear discourse is based on ambiguity and even bluff. The adversary will never really know where the “red line” goes which you cannot pass without counter acts. You can actually never be sure whether the deterrence works or not—until it doesn’t.

It’s also very dangerous to rely on political leaders to always be rational and weigh the pros and cons of an act in a balanced and far-sighted way. The death penalty has not been able to prohibit homicides.

Decision makers can and probably will also be under a heavy mental burden if the political atmosphere is tense and there are huge implications at stake. They can be misguided, under the influence of alcohol or other drugs. The fate of humankind should never be trusted to the hands of very few—or even one—person. Sooner or later someone can be so unbalanced or desperate that he/she makes a fateful mistake regarding a nuclear attack.

The longer we have nuclear weapons, the greater the risk something goes fatally wrong. There have been dozens of near-miss occasions where only luck and cool-headed officers have prevented nuclear war from breaking out. Sometimes it has been a technical defect, sometimes a human misunderstanding. But as the UN Secretary General António Guterres has said, luck is not a strategy.

Although the current nuclear arsenals are less than one fifth of the Cold War numbers, their overkill capacity is still enormous. A nuclear war with only 2% of the total amount of nuclear weapons exploded will cause a nuclear famine threatening two billion people with starvation. In my home country, Finland, no one would survive such a catastrophe. Even a so-called first strike with, for example, 250 nuclear warheads without a counterstrike would collapse your own country’s food production and as a consequence your whole society. A full-scale nuclear war between the US and Russia, detonating thousands of warheads, would cause a nuclear winter and the possible extinction of humanity.

Still deterrence and the nuclear arms race goes on, because it is useful to many people. There are lots of companies benefiting economically as participants in the nuclear weapons industry. But nuclear weapons can also give states more space to carry out aggressive policies and to prevent others from attacking them. Iraq was occupied, but North Korea is still independent. And it is clear, that being a nuclear-armed state has enabled Russia to attack Ukraine. The fear of nuclear escalation has prevented NATO from defending Ukraine directly, although arms have been given.

Nuclear weapons have thus permitted the war in Europe, not prevented it or helped maintaining peace, as the deterrence mantra goes. On the contrary, many lower intensity wars and occupations have been made possible when countries owning nuclear weapons have threatened to use them if they are obstructed.

It is important to expose the fallacy of deterrence. We need to talk about the humanitarian consequences of nuclear weapons in order to get decision makers to understand that nuclear weapons cannot be used in any circumstances. But we also have to enlighten the leaders about the enormous risks deterrence contains. There is not and there cannot be any evidence that deterrence works in the long run. It is a fatal mistake to trust our whole existence to the rationality and sanity of decision makers and the infallibility of technology. Luck is not a strategy.

Dr. Juva is IPPNW co-president from Finland. She is a specialist in neurology and University lecturer at Helsinki University Central Hospital, Division of Psychiatry. She is also a deputy city counsellor (Green party) in the city of Helsinki.

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
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