Gibt es Lehren, die sich ziehen ließen, Konstanten der Geschichte, vom Sturz Mossadeghs 1953 bis zum Gaza-Krieg 2014?
Zunächst einmal sticht die große Kluft hervor zwischen dem Freiheitsversprechen und der breiten Blutspur, die sich durch den Orient zieht, als Ergebnis westlicher Militärinterventionen, wirtschaftlicher Strangulierung, der engen Zusammenarbeit noch mit den übelsten Diktaturen, solange sie nur pro-westlich sind. Staaten sind zerfallen, neue Bewegungen entstanden, teilweise terroristischer Natur. Parallel durchlebt die arabisch-islamische Welt ihre Häutung, bricht sie auf zu neuen Ufern, die sich bislang noch und auf absehbare Zeit im Nebel von Gewalt und Zerstörung verlieren, Hat westliche Politik in dieser Phase des Übergangs eine konstruktive Rolle gespielt, sich gestern oder heute mit den den demokratischen Kräften in der Region verbündet? Die Antwort fällt negativ aus. Die USA und mit ihnen die Europäer verfolgen zwei grundlegende Interessen: Ihr Versorgung mit Energie und Erdgas, einschließlich der Sicherung der Transportrouten, und die Sicherheit Israels, wobei Sicherheit fortgesetzte Herrschaft über die Palästinenser meint:
«Wenn die USA wollten, könnten sie den Konflikt zwischen Israelis den Palästinensern in drei Tagen-Iösen, indem sie Druck auf die israelische Regierung ausüben >>, glaubt Daniel Bahrenboim, und wer wollte ihm darin widersprechen.
Auffallend ist, dass sich derzeit die Konflikte in der Region, inklusive ihrer globalen Auswirkungen, zeitlich immer mehr verdichten. 26 Jahre lagen zwischen dem Sturz
Mossadeghs und der iranischen Revolution. Eine Ewigkeit, aus heutiger Sicht. Vor zwei, drei Jahren kannte kaum jemand den «Islamischen Staat». Jetzt ist er ein ernstzunehmender Machtfaktor. Wie die Region in fünf Jahren aussehen wird, weiß niemand. Syrien und den Irak gibt es als Nationen nur noch auf der Landkarte. Zerfällt die staatliche Ordnung im Nahen und Mittleren Osten insgesamt, so wie Jugoslawien zerfallen ist? Die bewährten Methoden westlicher Einflussnahme, Militär und Sanktionen, werden daran im Zweifel nichts ändern. Hilfreich waren sie nie. Neue Konzepte wären gefragt, aber westliche Denkfabriken produzieren wenig mehr als larmoyante Betrachtungen über den Niedergang der liberalen Weltordnung oder die zögerliche Rolle der USA als Weltpolizist. Liberal war diese Weltordnung immer nur für ihre Nutznießer. Die Bewohner Gazas oder Bagdads, Afghanistans oder Libyens haben wenig Anlass, der amerikanischen Götterdämmerung mit Tränen in den Augen beizuwohnen. Und der Weltpolizist hat wesentlich dazu beigetragen, daran sei ausdrücklich erinnert, unsere Feinde überhaupt erst zu erschaffen, AL-Qaida wie auch der «Islamische Staat» verdienen beide das Label «Made in USA». Im Rückblick war der Fall der Berliner Mauer eine historische Zäsur, die von den Siegern nicht genutzt wurde. Das Diktum vom «Ende der Geschichte»,das der amerikanische Polit-Philosoph Francis Fukuyama damals prägte, ist seinerseits längst Geschichte, steht aber sinnbildlich für die Verblendung des Westens. Die Annahme, dessen Siegeszug und die segensreiche Allmacht des Marktes seien unumkehrbar, war nie etwas anderes als narzisstisch. Die Welt besteht nicht allein aus den anglophonen Ländern, Europa lind Japan, die ihrerseits genügend Unheil angerichtet haben, auf allen Kontinenten, über Jahrhunderte. Anstatt auf den großen Verlierer Russland zuzugehen, anstatt eine neue Politik auf Augenhöhe mit anderen Akteuren zu begründen, anstatt einen Moment innezuhalten und der vielen Opfer der eigenen imperialen Politik zu gedenken, haben sich die USA und mit ihr die Europäische Union für den entgegengesetzten Weg entschieden. Auf internationalem Parkett waren sie seit der Wende vor allem bemüht, neue Machtansprüchen Geltung zu verschaffen, inklusive Osterweiterung der Nato, und die eigene, die westliche Hegemonie mit allen Mitteln zu verteidigen, obwohl deren Ende abzusehen ist. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas ist nicht auch die übrigen BRICS-Staaten Brasilien:
Russland, Indien, Südafrika sind auf dem Weltmarkt zunehmend präsent. Ihre Neigung, den Spielregeln Washingtons zu folgen, wird dementsprechend schwinden. Gleichzeitig erscheint die Welt in einem Zustand permanenter’Unruhe, im Krisenmodus. Noch zur Jahrtausendwende wähnte sich der Westen in einem Paradies namens New Economy: Wachstum und Wohlstand durch technologische Innovation, gleichzeitig die Befriedung der Welt durch ihre fortschreitende Verbürgerlichung. Auf den Crash 2008 folgten Rezession und Stagnation mit hohen Arbeitslosenzahlen in Europa. Überzeugungen gerieten ins Wanken, Gewissheiten und Sicherheiten schwanden. Nichts ist beständig außer dem Wandel. aber selbst der verheißt keine Morgenröte.
Eine Zeit neuer Unübersichtlichkeit erwächst, die nicht länger von einem Machtzentrum allein bestimmt wird. Die Ära globaler Hegemonie, die nach 1945 zunächst von den USA und der Sowjetunion geprägt wurde, seit 1989 von Washington und seinen Verbündeten, hat sich überlebt. Mit China betritt nicht einfach eine neue Großmacht die Weltbühne, die alte Ordnung unter neuem Vorzeichen fortsetzt. Selbst wenn Peking das wollte, würde es nicht gelingen. Die neue Unübersichtlichkeit hat ihre Wurzeln in der Multipolarität.der Vielzahl an gegebenen oder entstehenden Machtzentren. Darunter finden sich Nationen, Staatenbündnisse, globale Großunternehmen wie Google oder Amazon, Geheimdienste, politische Bewegungen, nichtstaatliche Akteure, weltweit aufgestellte Kriminalitäts- oder Terrornetzwerke, Nichtregierungsorganisationen. Unter- und gegeneinander ringen sie um Macht und Einfluss, sind heute Verbündete und morgen Gegner oder Feinde.
Diese neue Unübersichtlichkeit braucht Diplomatie, Interkulturalität und Pragmatismus. Nichts deutet darauf hin, dass die Regierenden und Meinungsmacher in westlichen Staaten die Zeichen der Zeit verstanden hätten.
Sie verlieren sich im Kleinklein der Tagespolitik und halten fest an der Unterteilung der Welt in «gut» und «böse». Sie übersehen dass ein Großteil der Menschheit ein Leben in Ohnmacht führt, vielfach entrechtet und ohne Chance auf unser privilegiertes Dasein. Diese Menschen sind Verlierer, und sie wissen das auch. Oft genug reagieren sie mit Gewalt auf die Zumutungen der westlich geprägten Weltordnung, weswegen sie zu den «Bösen» gerechnet werden.
Das Wort von der «westlichen Wertegemeinschaft» oder dem «christlichen Abendland» beinhaltet feste Überzeugungen. Dazu gehört, dass nicht etwa die Ausübung von Macht und Gewalt im Verlaufe von Jahrhunderten unsere Vorherrschaft begründet hätte, sondern die von evolutionären Entwicklungen gesteuerte, auf Einsicht und Vernunft fußende, westliche Zivilisation. Umso ratloser erscheinen die Auguren: Warum konnte sich liberale Demokratie unseres Zuschnittes nicht durchsetzen? Warum lieben die Russen ihren Putin, die Türken ihren Erdogan, obwohl beide für ein autoritäres Regierungssystem stehen?
Die Antwort ist so schwer nicht zu finden. In Schwellenländern wollen untere und mittlere soziale Schichten dort ankommen, wo wir uns bereits befinden: in der Konsumgesellschaft, im Sozialstaat. Meinungsfreiheit interessiert sie weniger als der eigene Aufstieg. Ihr Ideal ist der Macher, der starke Mann, der es selbst von ganz unten nach oben geschafft hat. In solchen Milieus gelten Regeln und Weltbilder, die meist noch stark patriarchalisch geprägt sind und einem autoritären Verständnis von Religion oder Nation anhängen. Davon abgesehen haben die Menschen gerade im Orient den großen Widerspruch dem Freiheitsversprechen des Westens und den Niederungen seiner Realpolitik zu Hunderttausenden mit dem Leben bezahlt. Diese Menschen wissen auch, dass ein Großteil der Europäer und Amerikaner dem Islam mit Ablehnung und Verachtung begegnet und Israel gegenüber grundsätzlich andere Maßstäbe anlegt als gegenüber dem Rest der Welt.
Der indische Essayist Pankaj Mishra sieht es so: «Nur die hoffnungslos Selbstzufriedenen werden wohl heute noch behaupten, dass der westliche way of life der beste ist und dass der Rest der Welt ihn getreulich kopieren sollte, mit Hilfe von nation- building und Kapitalismus westlicher Ausprägung. Dogmen, mit denen alle über einen Kamm geschoren werden, sind in einer beunruhigend vielfältig und schnelllebigen Welt nicht mehr gefragt.»
Welchen Weg andere Kulturen oder Staaten gehen wollen, müssen sie selbst entscheiden. Wir aber müssen uns fragen, wo und wie wir unseren Platz finden wollen innerhalb der neuen Unübersichtlichkeit. Das betrifft nicht nur die Politik, sondern berührt auch Fragen von Kultur und Identität. Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. Dieses Schlusswort plädiert für Windmühlen. Angefangen damit, die Welt nicht länger in ein «wir» und «die» zu unterteilen. Die großen Bruchlinien verlaufen nicht zwischen Staaten, Religionen oder Ideologien. Sondern dort, wo es um die Verteilung von Macht und Ressourcen geht. Einen «Kampf der Kulturen» gibt es nicht, wohl aber einen Kampf um die Fleischtöpfe:… Die meisten Opfer radikaler Islamisten sind Muslime, nicht Europäer oder Amerikaner. Wir interessieren uns allerdings meist erst dann für die Opfer, wenn sie aussehen wie wir oder der Terror an unsere Türen klopft.
Die Deutschen sind Weltmeister der Erinnerungskultur, aber wie die meisten Europäer können sie sich nicht vorstellen, dass der Westen Unrecht begeht. Unrecht begehen die anderen: Russen, Chinesen, Muslime. Sie unterdrücken die Freiheit oder begehen Massenmorde. Wir dagegen tun das nicht. Der Krieg in Vietnam oder der Putsch gegen Allende, der Putsch gegen Mossadegh oder der Krieg im Irak – welchen «Transatlantiker» würden sie ernsthaft betrüben?
Werte gehören zur festen DNA westlicher Gesellschaften, dienen der Sinnstiftung, der Eigenlegitimation, auch der Selbstvergewisserung: Ja, wir sind die Guten. Und gerade weil diese Werte ein hohes Gut darstellen, dürfen sie in der politischen Praxis nicht zum Schlagwort verkommen.
Als Deckmantel eigener Interessen, im Dienst einer vermeintlich höheren Moral. Wenn Menschenrechte vor allem dazu herhalten müssen, eigene Machtpolitik zu tarnen oder Unliebsame Politiker anzugehen, etwa Putin oder Erdogan, während sie ansonsten, etwa im Umgang mit Israel oder den USA, Stichwort Gaza oder Guantanamo, so gut wie keine Rolle spielen, werden sie zur Worthülsen, gerinnen sie zur Gesinnungsethik. Fangen wir an mit kleinen Schritten. Verlassen wir uns nicht auf Politiker oder Publizisten, die in ihrem Provinzialismus längst erstarrt sind. Übernehmen wir selbst Verantwortung, im Bewusstsein unserer vielen Privilegien.
Lernen wir Demut und Bescheidenheit, bei allem Stolz auf unsere eigene Kultur. Je eher wir begreifen, dass Millionen Menschen allein im Nahen und Mittleren Osten einfach nur zu überleben versuchen, umso leichter fällt es auch, ihnen beizustehen. Vor allem jenen, die zu uns kommen, als Flüchtlinge. Helfen wir ihnen, hier Wurzeln zu schlagen, denn sie werden bleiben. Ächten wir Antisemitismus und Islamhass.
Zeigen wir Härte denen gegenüber, die unsere Freiheit missbrauchen. Dazu gehören auch diejenigen, die Wind säen und Sturm ernten, nicht allein im Orient. Der richtige Ort für sie ist der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag.
An dem Tag, an dem dort Anklage gegen die großen Verderber und Schreibtischtäter erhoben wird, oder wenigstens doch gegen einige von ihnen, allen voran George W. Bush, Dick Cheney, Tony Blair, Donald Rumsfeld, hat sich das Wort von der «westlichen Wertegemeinschaft» tatsächlich mit Leben erfüllt.
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