Liebe Leute,
ich habe soeben vom brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff, der vielen von euch bekannt sein dürfte, einen Text zur Kriegsgefahr erhalten. Er hat mich ausdrücklich autorisiert, ihn in Deutschland zu verbreiten (s. Anhang). Vielleicht ist das auch im Hinblick auf das bevorstehende Hiroshima-Gedenken hilfreich. Ich finde, eine Stimme aus dem globalen Süden könnte unseren Horizont durchaus erweitern.
Herzlichen Gruß B
Ein Weltkrieg scheibchenweise?
Leonardo Boff
Am 29. Juni 2022 fand in Madrid der Gipfel der Länder statt, die der NATO, also dem Nordatlantischen Verteidigungspakt”, angehören. Die führende Nation dieses Bündnisses sind die USA. Die Beziehung der europäischen NATO-Länder zu den USA ist übrigens eine der demütigen Unterwerfung.
Auf diesem Gipfel wurde das „Neue Strategiekonzept“ festgelegt, das in gewisser Weise über die Grenzen Europas hinausweist und die gesamte Welt abdeckt. Um diese Strategie mit globalem Anspruch zu verstärken, waren auch Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland auf dem Gipfel vertreten. Hier wurde etwas äußerst Gefährliches und Provozierendes über einen möglichen Dritten Weltkrieg gesagt. Man bekräftigte, dass Russland der derzeitige direkte Feind und China der potenzielle Feind von morgen sei. Die NATO stellt sich selbst nicht nur als Defensivbündnis dar, wie dies ursprünglich gedacht war, sie ging zu einem offensiven Selbstverständnis über.
Man führte die perverse Kategorie des „Feindes“ ein, den man bekämpfen und vernichten muss. Dies verweist auf den den Nazis nahestehenden Juristen Carl Schmitt (1888–1985). In seinem Essay aus dem Jahr 1932, Der Begriff des Politischen, heißt es:
Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind. […] Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich also theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Höhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird.[1]
Wiederum macht sich Europa zum Opfer seines eigenen Paradigmas des Willens zur Macht im Sinne von Herrschaft über die anderen einschließlich der Natur und dem Leben. Dieses Paradigma bewirkte, dass allein im 20. Jahrhundert zwei große Weltkriege mit hundert Millionen Toten stattfanden. Es hat den Anschein, als ob Europa in zwei Jahrtausenden der Verkündigung des Evangeliums nichts gelernt hätte – eines Evangeliums, dessen strukturierendes Prinzip die Liebe, die Solidarität und die Vertteidigung der am meisten Verletzlichen ist.
Heute weiß man, dass sich hinter dem Krieg in der Ukraine die Konfrontation zwischen den USA und Russland bzw. China verbirgt. Es geht darum, wer die Welt geopolitisch beherrscht.
Bis heute haben wir eine unipolare Welt unter der völligen Vorherrschaft der USA, die ungeachtet der bei etlichen Militärinterventionen erlittenen Niederlagen den Kurs der Geschichte bestimmen. Diese Militärinterventionen waren stets brutal und haben alte Kulturen wie die Nordafrikas und insbesondere im Irak und Afghanistan zerstört.
Luiz Alberto Moni Bandeira (1935–2017), die für uns maßgebende Autorität im Hinblick auf Geopolitik, hat in seinem detaillierten Buch A desordem mundial:o espectro da total dominação, das im Jahr 2016 in Rio de Janeiro erschien, die drei grundlegenden außenpolitischen Mantras des Pentagon und der nordamerikanischen Außenpolitik überhaupt dargestellt:
1.Eine Welt – ein Imperium (USA)
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Full spectrum dominance, das meint die Dominanz über das gesamte Spektrum der Wirklichkeit auf der Erde, zu Wasser und in der Luft mit etwa 800 auf der ganzen Welt verstreuten Militärstützpunkten.
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Alle Regierungen der Länder destabilisieren, die der imperialen Strategie widerstehen oder sich ihr widersetzen. Und dies nicht mehr mit Staatsstreichs und Panzern auf den Straßen, sondern mithilfe von Verleumdung und Diffamierung der Politik als dem Hort von Schmutz und Korruption, von Rufschädigung führender Politiker und einer konzertierten Aktion von Politik, Medien und Justiz zur Entfernung der Staatschefs widerständiger Staaten. So geschehen in Honduras, in Bolivien und in Brasilien, wo man auf diese Art die Präsidentin Dilma Rousseff stürzte und später den Präsidentschaftskandidaten Luis Inácio da Silva („Lula“) zu Unrecht ins Gefängnis brachte. Nun folgt das neue Strategiekonzept der NATO dieser von den USA aufgezwungenen und für alle gültigen Orientierung unter dem Vorwand der Sicherheit und Stabilität der Welt.