wichtig finde ich die Meinungen von Uri Avnery: http://helmutkaess.de/Wordpress/?p=3900
und die Diskussion in der IPPNW Deutschland (www.ippnw.de) unten mit einem Brief von Günter Rexilius:
Trump und die IPPNW – ein etwas anderer Blick
Dr. Günter Rexilius 22.11.2016
“Ist denn nicht diese Ungleichheit zwischen den Klassen und den Nationen die größte Bedrohung des Friedens?”
Der heilige Franz mit den Worten Papst Pius’ VI. in Pasolinis “Große Vögel, kleine Vögel“
Nein, mich hat der Beitrag von Alex Rosen zum Wahlerfolg des Donald Trump nicht überzeugt. Je mehr ich gelesen habe, desto irritierter war ich. Meine Assoziationen: Emotionale Erregung statt sachlicher Analyse, demagogische Schlenker, suggestives Vokabular: etwa Bush-Assoziation, Charakterisierung als fast debil, unterstellte Unfähigkeit zum verantwortungsvollen Handeln, Attribute wie Naivität, sozialdarwinistische Etikettierung usw. Seine besorgt klingenden Angriffe wirken wie zustimmende Resonanz auf die mediale Kampagne gegen den republikanischen Kandidaten, in der alle Register der Diskriminierung, der demagogischen Tricksereien und der suggestiven Stimmungsmache gezogen wurden, vor allem in deutschen Medien. Auch verbale Aggressivität ist aggressiv, auch sprachliche Schläge sind Formen der Gewalt – nicht nur gegen Donald Trump, der selbst ohne Rücksicht auf Verluste austeilt, sondern gegen die, von denen er gewählt wurde. Wenn laut SZ 82% der Deutschen überzeugt waren, dass Hillary Clinton die Wahl gewinnt, muss die Frage erlaubt sein, ob ein derartiges diskursives Desaster, dem noch die geringste journalistische Sachlichkeit fehlte, bar jeder Seriosität und Redlichkeit der Berichterstattung, unseren Vorstellungen von zivilen Lösungen für gesellschaftliche Konflikte entspricht. Es war vielmehr Teil der “postfaktischen” Stimmungsmache, die Alex Rosen in seinem Beitrag diesem – sicherlich zu Recht – anlastet, die aber auch durch seinen Beitrag weht.
Ich will meine Einschätzung nicht an einzelnen Formulierungen festmachen, weil mir der ernsthafte Versuch, nach Impulsen für die Arbeit der IPPNW zu suchen, wichtiger ist, möchte mich deshalb argumentativ aus den meines Erachtens unproduktiven argumentativen Gleichschritt ausklinken. Die wiederkehrende Einschätzung, Trumps Wahl sei so etwas wie Warnschuss an uns alle, scheint mir ein passabler Anker für weiterer Überlegungen zu sein: Was soll das heißen, insbesondere für die deutschen IPPNW?
Alternative Hillary Clinton?
Bei Alex Rosen klingt an, dass auch Frau Clinton als Präsidentin nicht unproblematisch gewesen wäre – aber der eine Absatz, in dem er über ihre Zugehörigkeit zum politischen Establishment und ihre unerfreuliche Rolle in der amerikanischen Politik sinniert, bleibt vage. Angst und Bedrohung, betont er wiederholt, löst bei ihm Trump aus, nicht Clinton, so wie Politik und Medien es seit Monaten suggerieren. Seine Gefühle werfen auch a posteriori noch die Frage auf: Kann diese Frau von einer friedenspolitischen Position her als das “kleinere Übel” gesehen werden?
Die Antwort kann meines Erachtens nur lauten: Nein! Wenn jemand in den letzten zwanzig Jahren Kriege und militärische Lösungen forciert und zu verantworten hat, dann sie, bis hin zur kriegseskalierenden Forderung einer Flugverbotszone über Syrien noch kurz vor der Wahl. Frau Clinton, ausgestattet mit der Macht, jeden Knopf zu drücken, der Bomber und Drohnen und Raketen auf ihren tödlichen Weg bringen kann, bis hin zum atomaren Schlag, hätte uns mit beängstigender Wahrscheinlichkeit einen 3. Weltkrieg aufgezwungen – vor dieser Bedrohung haben nicht zuletzt Jakob Augstein im SPIEGEL und andere mediale ExpertInnen gewarnt. Es verwundert nicht, dass die exponiertesten Scharfmacher in Europa und Nato, von der Leyen und Stoltenberg, am heftigsten und aggressivsten auf Trumps Wahl bzw. Clintons Nicht-Wahl reagieren, und dass die meisten der an den Hebeln der Macht sitzenden politischen Mandats- und Entscheidungsträger aufgeschreckt sind, weil das erwartete “Weiterso” bedroht zu sein scheint. Und Trump? Zumindest hat er nicht auf der Klaviatur der kriegerischen Instrumente gespielt, und seine Ankündigung, mit Russland in Frieden leben zu wollen, hat er begonnen wahrzumachen. Ich stimme Noam Chomsky, einem der letzten Wissenschaftler, die ihren analytischen Verstand gesellschaftskritisch einsetzen, zu, der in Trumps Äußerungen zu Russland eine Chance für Frieden in der Welt sieht, und der Europa mahnt, endlich den Aufbau eines immer mächtigeren Bedrohungsszenarios gegen Russland zu beenden.
Trump und die verhinderte Alternative
Um die vielleicht nicht ganz so deutlichen Signale zu vernehmen, die von Trumps WählerInnen ausgehen, und ihre Botschaft zu verstehen, hilft es, einen Blick über Trump und Clinton hinweg auf den Wahlkampf von Bernie Sanders zu werfen. Die Bewegung, die ihn getragen hat, war – nicht nur für die USA –hoffnungsvoll für viele, sie war friedlich, sozial, gesellschaftskritisch und bereit, unmenschliche und unerträgliche Lebensverhältnisse umzukrempeln. Die an ihr Beteiligten haben viele Menschen erreicht, sie haben sich für die interessiert, die seit Jahrzehnten vom politischen Establishment abgehängt und von der neoliberalen ökonomischen Profitlogik ausgestoßen worden sind, die Sanders infrage gestellt hat. Deshalb haben so viele junge Menschen, die um ihre Zukunft bangen, ihm zugejubelt, ihm zugetraut, dass er die amerikanische Gesellschaft auf einen sozialen, gerechten und demokratischen Weg bringen kann. Sanders hat die Finger in die amerikanischen Wunden gelegt und konsequent darauf hingewiesen, dass der Umgang der ökonomischen und politischen Macher mit einem großen, inzwischen wohl dem größten Teil der Menschen, existenziell zerstörerisch ist.
Menschen, die sich ignoriert, teilweise für ihr Elend noch verspottet, ausgegrenzt und exkommuniziert fühlen, resignieren – oder sie schlagen irgendwann zurück, und sei es per Stimmzettel. Wenn sie auf die selbsternannten Verteidiger der westlichen Werte reagieren, auf deren plutokratisch und oligarchisch verseuchte Abgehobenheit vom Alltag leidender Teile der Bevölkerung, beginnt der gesellschaftliche Boden zu beben, wie jetzt in den USA. Beide, Trump und Sanders, haben einen großen Teil der Menschen hinter sich versammeln können die Opfer der ökonomisch und politisch Mächtigen sind und von diesen immer weniger wahrgenommen werden. Zumindest eine große Schnittmenge der Unzufriedenen, vom gesellschaftlichen Reichtum Abgehängten und ob ihrer existenziellen Hoffnungslosigkeit Verzweifelten hat in dem einen wie in dem anderen einen Lichtblick im Dunkel ihres Lebens gesehen.
Trump und Sanders, nicht Trump und Clinton, symbolisieren die beiden aktuellen Modelle für die Entschärfung der bislang nur latent explosiven Spannungen innerhalb der amerikanischen – und der europäischen – Gesellschaft. Trump steht für die tyrannische, die undemokratische, für die Lösung, die von autoritären und repressiven Interventionsstrategien lebt; sie kann – soziale, gesellschaftliche – Schäden regulieren, aber immer und gezielt auf Kosten anderer Menschen, die noch mehr leiden, noch mehr tyrannisiert werden. Bernie Sanders steht für ein Lösungsmodell, das den demokratischen Ansatz des Zusammenlebens von Menschen jeglicher Herkunft, Religion und gesellschaftlicher Gruppen wiederherstellen, beim Wort nehmen und wieder mit Inhalt füllen will. Beide, Trump und Sanders, zeichnet ihre Authentizität aus, die der politischen und ökonomischen Elite längst abhanden gekommen ist: Trump hat aus seinen autoritären Absichten und machtaffinen Einstellungen kein Hehl gemacht, so wenig wie Sanders aus seiner sozialen, solidarischen, demokratischen Handlungslinie.
Neben diesen beiden so unterschiedlichen, aber auf ihre Weise wahrhaftig wirkenden Figuren haben die Verlogenheit und Korruptheit von Frau Clinton sich besonders krass abgehoben. Weder in den hiesigen Medien noch bei Alex Rosen spielt die infame intrigante Kampagne von Frau Clinton und ihren Verbündeten in der demokratischen Partei und über sie hinaus die Rolle, die ihr für die Wahl und ihre Konsequenzen zukommt: Sie hat persönlich die Fäden gezogen, ihren demokratischen Kontrahenten auf eine unanständige und hinterhältige Weise auszubooten oder, wie es in einer der von Wikileaks veröffentlichten Mails heißt, „zermalmen“ versucht. Es wäre vielleicht eine große, eine epochale Chance für das Wirklichwerden einer weltpolitischen Utopie geworden, wenn sie beide zur Wahl gestanden hätten und nicht Frau Clintons Machtkalkül diese so hoffnungsvolle Alternative verhindert hätte.
Eine Reihe seriöser Analysten von Wahlverlauf und –ergebnis belegen mit handfesten Zahlen, dass Bernie Sanders die Wahl gegen Trump wahrscheinlich gewonnen hätte. Zu dessen Erfolg hat der Schwenk, den ein Teil von Sanders‘ Anhängern vollzogen haben, nicht nur hin zu „grün“, sondern auch zum republikanischen Kandidaten, weil sie die korrupte, unsoziale und kriegslüsterne Clinton für das größere Übel hielten, nicht unerheblich beigetragen hat – mehr wahrscheinlich als “die weißen Männer ohne Collegebildung”, die Alex Rosen, unisono mit einschlägigen Medien und auf ein Teilphänomen verkürzt, verantwortlich für Trumps Wahl macht.
Sieg des Populismus?
Auf dem Hintergrund dieser Alternative wirkt die scheinbar überzeugende, weil stereotyp wiederkehrende Erklärung für die Erfolge von Leuten wie Trump, Le Pen, Wilders und anderen, sie seien doch nur bauernfängerische PopulistInnen, eine Nebelkerze zur Verschleierung der wahren Gründe. Für Platon waren Populisten diejenigen, die dem Volk nach dem Mund reden – aber die dem Volk zuhören und seine Stimmen ernst nehmen, sind keine PopulistInnen, sondern RealpolitikerInnen. Wer sie auf “rechts” oder “braun” reduziert, verfestigt eine bornierte Haltung, auf die meines Wissens nur ein Mainstreammedien-Journalist, Alois Theisen vom Hessischen Rundfunk, in einem Tagesschau-Kommentar hinzuweisen gewagt hat. Sie demonstriert seiner Meinung nach eine unsägliche Arroganz und verzerrte Wahrnehmungsmuster, mit denen Trump medial und politisch begegnet worden ist, und er zeigt die Gefahr auf, die von dieser Verengung der Perspektive ausgehen könnte.
Wenn PolitikerInnen aus den Nöten, den Ängsten und der Verzweiflung von Menschen politischen Nutzen ziehen, betreiben sie ihr Alltagsgeschäft, von dem alle Parteien und ihre ProtagonistInnen leben, egal ob sie Trump oder Clinton, Gabriel oder Merkel heißen. Wir sollten deshalb Abschied nehmen von der populistischen Erklärungsroutine und uns lieber unserer reflexiven und analytischen Fähigkeiten bedienen, denn sie ersetzt inzwischen das Nachdenken fast vollständig. Tausendfach echot es, im PoliterInnensprech, in Print- und allen anderen Medien und leider auch in linken und anderen sonst eher distanziert-kritischen Stellungnahmen, immer häufiger: PopulistInnen, Populist…,Popul…, wie können wir uns vor ihnen schützen, was macht sie attraktiv für die Menschen usw. Sicherlich gibt es auch die, auf die Platons Definition zutrifft, aber die entscheidende Frage, was vielen Menschen treibt, sich von etablierten, gewohnten, eingeschliffenen politischen Ritualen und ihren Akteuren abzuwenden, rückt nicht nur in den Hintergrund, sie wird gar nicht mehr gestellt. Wir sollten, wir müssen sie stellen.
Trump, Sanders – und wie das politisch-ökonomische Leben so spielt
Trump hat sich rassistisch, sexistisch, ausländerfeindlich präsentiert, also so, wie er ist. Solche und andere sicherlich zutreffende Attribute sollten uns nicht darüber hinweg täuschen, wie eng sie mit unseren hiesigen politischen Verhältnissen zusammenhängen. Wer Trumps Androhung, eine Mauer gegen mexikanische Eindringlinge zu bauen, oder seine Ausfälle gegen Hispanics und Frauen, widerlich findet oder bedrohlich, ohne den nächsten notwendigen gedanklichen Schritt zu vollziehen, blickt durch eine politisch korrekt eingenordete Brille oder hat sich mit dem alltäglichen Rassismus und Sexismus hierzulande arrangiert: Europa hat sich eingezäunt, hat mit Diktatoren und Despoten Abschottungsverträge geschlossen und lässt jährlich Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, seit vielen Jahren – das ist kein verbaler, das ist praktizierter Rassismus mit tödlichen Folgen. Diese Tatsache bedeutet schlicht, dass wir hier in Deutschland, in Europa, die wahren Rassisten sind – und es schon immer waren, blicken wir auf die letzten Jahrhunderte zurück. Was Sexismus bedeutet, kann mindestens jede zweite Frau in unserer näheren Umgebung beschreiben und erklären. Es sind Verhaltensmuster, die nicht für Trump typisch sind, sondern für diejenigen, die Macht über andere haben, wo auch immer und wie wie auch immer, hier wie dort; Oettinger ist kein Ausreißer, sondern hat in seiner kumpelhaften Dümmlichkeit nur kurz die Maske gelüftet, die viele von ihnen ihrer politischen Karriere zuliebe tragen.
Wenn wir als IPPNW aus der Wahl in den USA lernen wollen, müssen wir uns – heute mehr denn je – den gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen hier und anderswo stellen. Nicht die sog. Globalisierung – die grundsätzlich ein Segen für die Menschheit sein könnte, kulturell, religiös, historisch -, ist ein gefährlicher Virus für den sozial-politischen Frieden, sondern die Tatsache, dass sie von einer neo- bzw. marktliberalen Ökonomie beherrscht und durchsetzt ist, der vom größten Teil der politischen Mandats- und Entscheidungsträger durch Gesetze und Verordnungen der Rücken frei gehalten, die damit die Zerstörung von Mensch und Natur legitimieren und beschleunigen. Das Geflecht von Regelungen und Deregulierungen, die marktkonform perfekt ineinander greifen, stützt und sichert ein entfesseltes Profitstreben, unkontrollierte Finanzmärkte, steuersubventionierte Profite, legale Steuerflucht gerade derjenigen, die unter der Last ihrer Einkommen und Vermögen fast zusammenbrechen. Die sind für viele Menschen grausam:. Die Zahl derjenigen, die in den sozialen Abgrund, in die soziokulturelle und gesundheitliche Verarmung gestoßen werden, als Kinder, als Jugendliche, als Erwachsene, als Rentner, wächst und wächst und wächst, bei gleichzeitiger Vergrößerung der Kluft zwischen denen, die arm sind, und denen, die reich sind. Alle Armutsberichte und Analysen gesellschaftlicher Dynamik transportieren die gleiche Botschaft, Piketty hat das so nüchterne wie entlarvende Zahlenmaterial beigesteuert.
Nicht nur die Menschen, auch die politischen Strukturen ihres Zusammenlebens werden neoliberal zersetzt. Nicht zufällig wird in den letzten Wochen viel von demokratischen Werten und Zusammenhalt der Gesellschaft gesprochen, als sollen sie geradezu beschworen werden, und zwar ausgerechnet von denen, die seit Jahrzehnten demokratische Werte sukzessive abgebaut haben. Sie haben jedes nur mögliche Wahlversprechen gebrochen, für die Beteiligung an illegitimen militärischen Attacken in vielen Teilen der Welt demokratische Regeln ausgehebelt, Schutzgesetze wie die für Asylsuchende plattgewalzt und mit CETA und TTIP demokratisches Miteinander an die weltweit operierenden Konzerne verscherbelt, sie haben eine EU der Konzerne und der Wohlhabenden geschaffen, deren wichtigste Organe ohne demokratische Kontrolle funktionieren, sie haben Billionen von Steuergeldern den Finanzinstitutionen für ihre jeder Kontrolle entzogenen Spekulationen und die Millionen-Boni ihrer mit unserem Geld zockenden Manager zugesteckt, und sie haben damit dem Gemeinwohl, also den staatlichen Leistungen, auf die wir alle Anspruch haben, den finanziellen Boden weitgehend entzogen. Sie wollen uns jetzt mahnen, es gäbe noch etwas zu verteidigen, was als demokratische Grundlagen des Zusammenlebens vorhanden wäre: Wer Konzerne Gesetze schreiben lässt, durch die sie eigentlich kontrolliert werden sollen, wer ihnen gesetzlich zugesteht, Menschen systematisch zu vergiften und den Klimaschutz nicht weniger systematisch auszuhebeln, wer sich von ungezählten Lobbyisten umgarnen und letztlich korrumpieren lässt, für die ist Demokratie eine verlogene Phrase oder eine Fassade, hinter der sie ihre undemokratischen Machenschaften planen und umsetzen.
Die IPPNW und ihre zwei Seiten
Eine kompakte Skizze gesellschaftlichen Realität, mit der wir alltäglich konfrontiert sind, an der aber nicht wir ÄrztInnen und PsychoTherapeutInnen leiden, sondern die vielen Millionen Mitmenschen, die keinen Job und kein ausreichendes Einkommen, keine lebenswerte Zukunft und keine ausreichende Rente haben. Ihr prekäres und geschundenes Leben sollte uns im Anschluss an die Wahl in den USA nachdenklich machen, sie zum politisches Lehrstück werden lassen. Wie das geht?
Ich denke – ein wenig wehmütig – an Horst-Eberhard Richter zurück, der viele Jahre lang die IPPNW nicht nur mit seiner Persönlichkeit geprägt hat: zu ihr ist er vor allem durch seinen klaren, unmissverständlichen und unbeugsamen Einsatz für Frieden geworden – für den äußeren in einer Welt ohne (Atom)Waffen und für den inneren in einer Gesellschaft, die von sozialer Gerechtigkeit und solidarischem Miteinander getragen wird. An diesem doppelten Auftrag für eine politische Ärzteorganisation hat sich bis heute nichts geändert, er ist im Gegenteil dringlicher geworden.
Dem ersten Auftrag widmen die IPPNW viel Aufmerksamkeit und zahlreiche Aktivitäten, sei es die friedliche oder militärische Nutzung der Atomenergie, sei es die Ächtung der Atomwaffen, sei es die Beteiligung an Kampagnen wie die gegen den grauenhaften Krieg in Syrien und für zivile Lösungen – die Stellungnahmen zur Wahl bewegen sich überwiegend innerhalb seines Rahmens. Dem zweiten Auftrag gegenüber agieren sie eher zurückhaltend, ja konsensual mit einem gesellschaftlichen Status quo, der Zündstoff für eine Explosion mit unabsehbaren Folgen birgt. Horst Eberhard Richter hat in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur mit Worten, sondern ganz aktiv eingegriffen, wo Menschen litten – als Psychoanalytiker sowieso, aber auch im sozialen Feld, in der Arbeit mit obdachlosen und verelendeten Menschen. Ihn hat das – materielle, seelische, umfassende – Leiden herausgefordert, weil er ihn ihm die Auswüchse einer gesellschaftlichen Dynamik sah, die schon in den ersten Jahrzehnten der bundesrepublikanischen Existenz immer gleichgültiger und ausgrenzender gegenüber den Menschen wurde, die krank oder arbeitslos wurden oder aus anderen Gründen in prekäre Lebensverhältnisse gerieten. Empathie ihnen gegenüber war und ist eine der wichtigsten Errungenschaften der 68er Revolte: Kaum jemand von denen, die damals politisch sozialisiert wurden, hat nur gegen den Vietnamkrieg oder die Atombewaffnung der Bundeswehr oder die Errichtung von Atomkraftwerken oder die CIA als Agentur des Niedermetzelns von Befreiungsbewegungen von diktatorischer oder militärischer Gewalt überall auf der Welt demonstriert, fast alle waren gleichzeitig irgendwo im sozialen Feld aktiv beteiligt am Bemühen, Ungerechtigkeit und Benachteiligung zu beseitigen. Diese empathische Aufmerksamkeit und Aktivität ist eine der tragenden Wurzeln der IPPNW in Deutschland.
Axel Rosens Beitrag bringt meines Erachtens in Bezug auf diesen Auftrag eine kaum konturierte Haltung zum Ausdruck, die der „sozialen Verantwortung“ im Verbandsnamen nicht mehr gerecht wird. Nicht sein Ruf nach sozialem Zusammenhalt oder mehr Demokratie hilft weiter, weil er längst in einer gesellschaftlichen Wüste erschallt, sondern das Aufdecken und Benennen von politischen, ökonomischen, sozialen Widersprüchen und der aktive Beitrag zu ihrer Lösung. Dabei bringt es wenig, möglichst wenig bei den für unerträgliche Zustände Verantwortlichen anecken und niemandem von ihnen auf die Füße treten zu wollen, sondern dort, wo ungerechte, verelendende, ausgrenzende, undemokratische Zustände herrschen – also eigentlich fast überall – das Wort erheben, einschreiten und nicht locker lassen. Ärzte in sozialer Verantwortung müssten sowohl die Klassenmedizin – etwa das gesundheitliche Elend von Hartz-IV-Empfängern und anderen armen Menschen wie Arbeitslosen, Rentnern, Obdachlosen – als auch die krankmachenden Lebensbedingungen von Millionen, die unterhalb der Armutsgrenze leben und besonders stark von Krankheiten, ihren Chronifizierungen, unzureichender medizinischer Versrogung und frühem Siechtum und Tod bedroht sind, anprangern. Wir sind die ExpertInnen, die mit dieser erbärmlichen Lebensrealität unzähliger Menschen in unserer täglichen Arbeit konfrontiert sind, und wenn unsere Wahrnehmung noch nicht genug geschult ist, können wir uns wissend machen über zahlreiche Studien und Forschungen, die belegen, was Armut, Elend und Hoffnungslosigkeit in Menschen psychisch und körperlich anrichten. Deshalb tragen wir Verantwortung dafür, dass diese Zustände sich ändern.
Fazit
Die IPPNW können und wollen keine Parteipolitik machen, aber sie können das Versagen der Parteien und ihrer ProtagonistInnen in Bezug auf die Brisanz einer materiellen, kulturellen, sozialen Verelendung aufzeigen, die von ihnen immer weiter vertieft wird. Wir als IPPNW können von Trump und von Sanders lernen, dass nicht nur die Atomwaffen unser aller Leben bedrohen. Der soziale Sprengstoff in der amerikanischen wie in den europäischen Gesellschaften ist nicht weniger bedrohlich für uns alle, weil er Aktionsmuster provoziert, die ihn nicht entschärfen, sondern noch explosiver machen. Ihre Apologeten nutzen den entdemokratisierten Zustand der politökonomischen Machtverhältnisse und treiben sie letztlich auf die Spitze. Ein Ergebnis könnte sein, dass die letzten demokratischen Reste auf den Müllhaufen der Geschichte landen – aber dem sozialen Sprengsatz wohnt auch die Chance inne, wie wir von Bernie Sanders lernen können, den Aufbruch in ein gerechtes, soziales, demokratisches Miteinander aller Menschen anzustoßen. Diese Lösung erfordert volle Konzentration, vollen Einsatz und die Bereitschaft, den schon ein wenig apokalyptischen Charakter der gesellschaftlichen Barbarei zur Kenntnis zu nehmen und ihr, auch wenn die meisten von uns sie nicht am eigenen Leibe spüren, den Kampf anzusagen. Das wäre Erfüllung des zweiten Auftrages für die IPPNW, es würde auch so ein wenig das Vermächtnis von Horst-Eberhard Richter ernst nehmen.
Ich zitiere noch einmal Noam Chomsky: Wie können wir angesichts der Tatsache, dass der Klimawandel uns immer mehr bedroht und das Polareis sich um 30 % verringert hat, uns von dieser Bedrohung durch ein Phänomen wie Trump ablenken lassen? Ich ergänze: …und von der Bedrohung durch die krankmachen, seelisch und körperlich verkrüppelnden und letztlich tödlichen Folgen neoliberaler Ökonomie und Politik für unzählige Menschen weltweit?
(Das Interview mit Noam Chomsky und der Kommentar von Alois sind mehrfach übers Netz gegangen, das Buch von Piketty ist sicherlich bekannt, deshalb verzichte ich auf detailliertere Quellenangaben. Einen Link möchte ich aber anfügen, der dem Denken eine Chance geben möchte: http://www.nachdenkseiten.de/?p=35828)
Dr. Günter Rexilius
Psychol. Psychotherapeut
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