Junge Welt, 16.10., Gazakrieg…

Ausland

Jürgen Heiser

Solidemos USA

»Free Palestine«

Zehntausende demonstrieren in den USA gegen Israels Krieg in Gaza und fordern Ende von US-Unterstützung

Vor dem Hintergrund der militärischen Eskalation Israels gegen die Bevölkerung des Gazastreifens ist es auch in den USA erneut zu Massenprotesten gekommen. Aus Solidarität folgten am Freitag (Ortszeit) Zehntausende landesweit dem von der Hamas ausgerufenen »Tag des Zorns« zur Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung. Das »israelische Apartheidregime, das Palästina besetzt hält«, begehe »ein schweres Kriegsverbrechen«, schrieb der US-Newsblog Struggle for Socialism dazu. Das Kriegskabinett des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu wolle »ein weiteres Kapitel der Nakba – arabisch für Katastrophe – aufschlagen, bei der 1948 mehr als 15.000 Palästinenser von Zionisten ermordet und 531 palästinensische Dörfer zerstört wurden«.

Allein in New York versammelten sich laut Reuters Tausende Demonstranten und forderten auf Transparenten und in Redebeiträgen »Beendet die Besatzung«. In aller Schärfe wurde die Regierung Netanjahu verurteilt. Diese hat als Vergeltung für die Welle der von den Kassam-Brigaden der Hamas durchgeführten Überraschungsangriffe gegen israelische Siedlungen die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung des Gazastreifens seit dem 7. Oktober täglich intensiviert.

Das People’s Forum in New York forderte die Einstellung jeglicher US-Hilfe für Israel: »Keine Gelder mehr für Waffen!« Jetzt sei es »an der Zeit, bis zur vollständigen Befreiung Palästinas zu mobilisieren«. Die Demonstranten skandierten »Netanjahu, wie viele Kinder hast du heute getötet?« und »Free Palestine«. Wegen der Proteste in New York und zahlreichen anderen US-Städten hatte die Polizei ihre Patrouillen vor jüdischen und islamischen Einrichtungen verstärkt. Die Behörden betonten jedoch, ihnen seien »keine konkreten Bedrohungen bekannt«.

Bereits am Wochenende des 8. und 9. Oktober nach dem Beginn der Offensive der Hamas namens »Al-Aksa-Flut« hatten in den USA landesweit spontane Solidaritätsdemonstrationen stattgefunden. Vor dem Weißen Haus in Washington, in den Zentren von New York City, Atlanta, Miami, Tampa, Chicago, San Francisco und Los Angeles – um nur die größten zu nennen – lauteten die Parolen »Beendet die Apartheid – Für ein freies Palästina«, »Keine US-Intervention in Palästina« und »From the river to the sea, Palestine will be free«.

Die große palästinensisch-US-amerikanische Community hatte zusammen mit indigenen, schwarzen und hispanischen Bewegungen breite Bündnisse mobilisiert. So gingen am »Tag der indigenen Völker«, am vergangenen Montag, in Boston laut Workers World Hunderte auf die Straße, »um sich mit dem palästinensischen Widerstand gegen den von den USA unterstützten zionistischen Terror zu solidarisieren«.

Auch die Black Alliance for Peace (BAP) stellte sich in ihrem landesweiten Aufruf an die Seite der Menschen im »Freiluftgefängnis von Gaza« und erinnerte »alle afrikanischen/schwarzen Menschen an unsere lange Tradition der Solidarität mit Palästina«. Mit der vollen Unterstützung der »westlichen internationalen Gemeinschaft« habe »die faschistische Netanjahu-Regierung die Folgen der inneren Widersprüche in Israel nur vorübergehend durch den Krieg gegen Gaza verdrängt«. Der »ultimative Widerspruch zwischen dem Kolonialregime und dem kolonisierten Volk« werde jedoch »mit dem Sieg aller kolonisierten Völker aufgelöst – dessen sind wir uns sicher«, so die BAP.

Bei allen Aktionen wurde jeweils ein starkes Polizeiaufgebot bis hin zu Antiterrorsondereinheiten des FBI aufgefahren, Fox News und andere rechte Kampfmedien hetzten für eine starke Repression der Proteste. Die Organisation Jewish Voice for Peace teilte im Anschluss mit, dass 80 jüdische Demonstranten in fünf Städten verhaftet wurden, »als sie die Wege zu den Häusern und Büros der Mandatsträger blockierten, während Tausende von Menschen sie beim Singen jüdischer Widerstands- und Friedenslieder unterstützten«.

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Ausland

Moshe Zuckermann

Krieg gegen Gaza

Mechanismus der Gewalt

Zur Rolle von israelischer Regierung, Medien und westlichen Politikern im Krieg gegen Gaza. Kommentar

Das Entsetzen über die Auswirkungen der Attacke der Hamas auf israelische Siedlungen ist diesmal besonders hoch. Zu grauenhaft die Bilder der barbarischen Massaker und Mordexzesse, die man nach und nach zu sehen bekommt; zu unfassbar das Versagen des Militärs in den ersten Stunden, das den Angegriffenen keinen Schutz und trotz herzerschütternden Anflehungen keine Hilfe zu bieten vermochte; zu eklatant die tatenlose Erbärmlichkeit der ansonsten populistisch demagogischen Regierung, die plötzlich verstummte. Die Bürgerinnen und Bürger in den betroffenen Orten fühlten sich verlassen, sehen sich vom Staat verraten. Das muss betont werden: Politik und Armee sind in der entscheidenden Stunde gescheitert, haben zweifellos versagt. Was sich als »Überraschung« präsentierte, beinhaltete in erster Linie Unterlassung von Gefordertem, arrogante Nonchalance der Verantwortlichen und die damit einhergehende Ideologie, die man sich über Jahre zurechtgebastelt hatte.

Die Leiderfahrung ist enorm, die Not gewaltig. Aber schnell schlug die Niedergeschlagenheit in wutentbrannte Aggression um. Angefeuert von den Medien, die politische Kommentare und Analysen lieferten, die letztlich primär auf Rache und brutale Vergeltung aus waren (und sind), obgleich sie sich als »Lösung« gaben: Die Hamas gehöre eliminiert, daher müsse Gaza in Schutt und Asche gelegt, »dem Erdboden gleich« gemacht werden. Bodentruppen werden erst dann eingesetzt werden, wenn die Luftwaffe die radikale Vorarbeit geleistet haben wird. Die Luftwaffe hat in den vergangenen Tagen eine Bombentonnage über Gaza abgeworfen wie noch nie zuvor (nach eigenem Bekunden). Dabei wurde die Doktrin des »chirurgischen« Vorgehens aufgegeben – im Krieg wie im Krieg, heißt es. Man könne diesmal keine Rücksicht auf Kollateralschäden nehmen und eben auch nicht auf Menschen im bombardierten Gebiet. Bei einigen geht es so weit, dass sie auch die von der Hamas gemachten Gefangenen und Geiseln in diesem Postulat mit einbeziehen.

Die entmoralisierte Rhetorik versteht sich als Notwendigkeit, zumal sich der US-Präsident so auf Israels Seite stellte, dass Bedenken gegenüber der Revanchepraxis mit »westlichen Werten« getränkt und eventuell auftauchende Gewissensfragen gleich ertränkt werden. Zu böse ist die ISIS-ähnliche Hamas, zu unschuldig Israel, als dass man heute in dem Land ernsthaft wagen würde, zu fragen, was dessen Anteil – über das unmittelbare operative Versagen hinaus – an dem Fiasko ist. Kaum erörtert wird, dass es Benjamin Netanjahus Postulat von jeher war, die Hamas zu erhalten, sie (indirekt) zu finanzieren und zu fördern, weil sie als effektives Gegengewicht zu den politischen Ansprüchen der PLO (der Gründung eines palästinensischen Staates im Rahmen der Zweistaatenlösung) instrumentalisiert werden kann. Nicht thematisiert wird zudem, dass die Schwächung der israelischen Armee (und der institutionellen Strukturen des israelischen Staates) durch die staatsstreichartige »Justizreform« der von Netanjahu kreierten ultrarechten Koalition bewirkt worden ist. Schon gar nicht denkt man daran, das essentielle Grundproblem der israelischen Polit- und Sozialrealität anzuvisieren: die Okkupation bzw. die Unterwanderung jeglichen Ansatzes einer politischen Lösung des Konflikts mit den Palästinensern. Der Konflikt gehöre nicht gelöst, sondern verwaltet, war (und ist noch immer) Netanjahus Grundüberzeugung.

Und er, der größte Versager von allen, er, der Israel seit vielen Monaten in den Abgrund reißt, um seine privaten Interessen (die Verhinderung eines Urteils in seinem Prozess) zu wahren, er sieht sich nun legitimiert in seiner Ausrichtung und seinen Handlungen: Die Monstrosität des von der Hamas Verbrochenen kommt ihm sehr zupass, hat ihn vorerst nachgerade gerettet – die Proteste gegen ihn sind erlahmt, die westliche Welt spendet ihm Rückendeckung, die gebeutelte israelische Bevölkerung ohnehin. Die Luftwaffe darf sich im Gazastreifen austoben. Und wer weiß, er wird vielleicht auch noch als Sieger aus alledem hervorgehen, mit Hilfe der »westlichen Demokratien« und der von ihnen mitgeförderten politischen Stagnation bei der Lösung des Konflikts mit den Palästinensern. Die Katastrophe der Bewohner Gazas interessiert dabei ohnehin niemanden. Sie hätten es sich selbst zuzuschreiben, was ihnen nun widerfährt.

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
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