Omer Bartov: „Netanjahu hat den Wind gesät, den Israel nun als Sturm ernten musste“

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Omer Bartov: „Netanjahu hat den Wind gesät, den Israel nun als Sturm ernten musste“

Vor den Terroranschlägen der Hamas hat der Holocaust- sowie Genozidforscher Omer Bartov eine israelkritische Petition verfasst. Hat sich an seiner Haltung etwas geändert?

Der Historiker Omer Bartov in seinem Haus in  Provindence, Rhode Island
Der Historiker Omer Bartov in seinem Haus in Provindence, Rhode IslandTre Cassetta für Berliner Zeitung Wochenende

Der israelische, in den USA lehrende Historiker und Holocaustforscher Omer Bartov hat Wurzeln in einem galizischen Städtchen, dessen antisemitische Gewaltgeschichte er in seinem Buch „Anatomie eines Genozids“ erzählt hat. Er gehörte im August zu den Verfassern der israelkritischen Petition „The Elephant in the Room. Jews fight for Justice“, die von mehr als 2800 meist jüdischen und israelischen Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, darunter Saul Friedländer, Meron Mendel, Shulamit Volkov, Eva Illouz, Dan Diner und Christopher Browning. Laut dieser Petition kann es „für Juden in Israel keine Demokratie geben, solange Palästinenser unter einem Apartheidregime, als das es israelische Juristen charakterisiert haben, leben“. Was sagt Omer Bartov zum Terror der Hamas, hat sich etwas an seiner Haltung geändert?

Herr Bartov, Ihre Mutter ging 1935 mit ihrer Familie nach Palästina, als sie 11 Jahre alt war. Warum?

Meine Mutter und ihre Familie haben ihre Heimat in Ostgalizien, das damals zu Polen gehörte, aus eigenem Entschluss verlassen. Obwohl der Antisemitismus in dieser Region zu dieser Zeit zunahm, blieben die meisten dort lebenden Juden in ihrer Heimat, weil sie sich nicht vorstellen konnten, was einige Jahre später geschehen würde, als die Deutschen kamen. Doch mein Großvater mütterlicherseits war Zionist und glaubte, dass seine Familie in einem zukünftigen jüdischen Staat ein besseres und sichereres Leben führen könnte. Er behielt damit auf furchtbare Weise recht. Seine Familie, die in Galizien geblieben ist, wurde von den Deutschen und ihren zahlreichen lokalen Kollaborateuren ausgelöscht.

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Tre Cassetta für Berliner Zeitung Wochenende
Historiker und Genozidforscher
Omer Bartov ist 1954 in Israel geboren. Er studierte Geschichte in Tel Aviv und in Oxford, lehrte unter anderem in Princeton und Harvard und arbeitete in Freiburg mit Manfred Messerschmidt zusammen. Heute forscht und lehrt Bartov als Professor für europäische Geschichte und deutsche Studien an der Brown University, Rhode Island.

Auf Deutsch ist von ihm erschienen: „Anatomie eines Genozids: Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“, Jüdischer Verlag, 486 Seiten, 28 Euro

Er gehört zu den Erstunterzeichnern der Petition: „The Elephant in the Room. Jews fight for Justice“, die im August veröffentlicht wurde.

Und Sie, sein in Israel geborener Enkel, verließen diesen rettenden Hafen als junger Mann. Was waren Ihre Gründe?

In bin in die USA gezogen, weil ich als Nachwuchswissenschaftler an der Universität Tel Aviv keine berufliche Perspektive sah und nicht genug verdiente, um meine junge Familie zu ernähren. Und in Israel spitzte sich die Lage mit der ersten Intifada zu, dem palästinensischen Aufstand im besetzten Westjordanland. Damals rief der Verteidigungsminister Yitzhak Rabin – heute erinnert man sich an ihn, weil er das Friedensabkommen von Oslo anführte und von einem jüdischen Terroristen ermordet wurde – die israelischen Truppen auf, den palästinensischen Jugendlichen, die aus Protest gegen die Besatzung Steine auf die schwer bewaffneten Truppen warfen, „die Knochen zu brechen“. Als Infanterieoffizier der Reserve hätte ich zu dieser brutalen Politik, die ich entschieden ablehnte, herangezogen werden können. Glücklicherweise wurde mir damals ein Forschungsstipendium an der Harvard University angeboten.

Sind Sie mit Israel in Kontakt geblieben?

Ja, ich reise mehrmals im Jahr dorthin, auch für längere Aufenthalte. Ich habe dort Familienmitglieder, liebe Freunde und viele Kollegen, und mir liegt das Land sehr am Herzen. Es gibt viele Gründe, sich um die Zukunft Israels zu sorgen, meiner Meinung nach mehr wegen seiner eigenen Politik als wegen der Gefahren, die ihm von seinen Feinden drohen. Der abscheuliche Anschlag der Hamas-Kämpfer am 7. Oktober hat mich und jeden anderen anständigen Menschen auf der Welt zutiefst erschüttert. Mitglieder meiner Familie, Freunde und Kollegen wurden von diesen Ereignissen auf tragische Weise getroffen. Niemand, der diese Massaker direkt oder indirekt miterlebt hat, wird je wieder derselbe sein. Ich bin zutiefst berührt sowohl vom Leid als auch von der aufkommenden Solidarität in der israelischen Gesellschaft nach diesen Gräueltaten.

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Kann man Ursachen und Motive benennen, ohne die Gräueltaten zu rechtfertigen?

Natürlich. Und als Historiker und politisch bewusster Beobachter Israels ist es meine Pflicht, die Ursachen zu betrachten. Sie reichen mindestens bis zum Krieg von 1948 zurück, in dem meine Eltern für die Gründung des Staates Israel kämpften, und in dessen Folge die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung aus dem Land vertrieben wurde. Zu den Ursachen gehört seit 56 Jahren auch die Unterdrückung von Millionen von Palästinensern, die mit beschnittenen Rechten, ohne Aussicht auf Freiheit und Gerechtigkeit in den besetzten Gebieten leben, wo sich immer mehr  ein Apartheidregime entwickelt hat. Dazu gehört auch die seit 16 Jahren andauernde Belagerung des Gazastreifens, durch die zwei Millionen Palästinenser in hoffnungsloser und demütigender Armut mit fehlender Grundversorgung gefangen gehalten werden. All diese Faktoren führen zu Gewalt, Wut und Rachedurst. Das wäre zu verhindern gewesen. So wie der Krieg von 1973, in dem ich Soldat war und in dem Freunde von mir gefallen sind, hätte verhindert werden können, wenn die israelischen Politiker mehr Bereitschaft zu territorialen Kompromissen und Frieden gezeigt hätten. Als Historiker glaube ich, dass Ereignisse in der Geschichte Ursachen haben, und dass wir, wenn wir diese Ursachen erkennen und angehen, eine bessere Zukunft für uns und unsere Nachkommen schaffen können.

Omer Bartov: „Dass die Hamas gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen, gibt den israelischen Verteidigungsstreitkräften keinen Freibrief für die massive Tötung von Zivilisten.“
Omer Bartov: „Dass die Hamas gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen, gibt den israelischen Verteidigungsstreitkräften keinen Freibrief für die massive Tötung von Zivilisten.“Tre Cassetta für Berliner Zeitung Wochenende

Sie erforschen als Historiker den Holocaust. Jetzt ist von Pogromen die Rede, der Terror der Hamas wird mit dem Holocaust in Beziehung gesetzt. Was ist von solchen Vergleichen zu halten?

Dies sind falsche, irreführende und ideologische Vergleiche. Pogrome waren Angriffe der Mehrheitsbevölkerung, vor allem in Osteuropa und nicht selten geduldet und unterstützt von der Regierung, gegen ihre jüdischen Nachbarn, die in der Minderheit waren. Die Juden hatten keine Regierung, keine Polizei und keine eigene Armee. Die Absicht des Zionismus war es, diesen Zustand durch die Schaffung eines jüdischen Mehrheitsstaates, der seine Bürger schützen kann, zu ändern. Dass es dem Staat Israel am 7. Oktober nicht gelang, seine Bürger zu schützen, war eine Kombination aus Inkompetenz und einem falschen politischen Konzept. Dieses Versagen hat seine tiefere Ursache in der Weigerung, einen politischen Kompromiss mit den Palästinensern zu suchen. Ministerpräsident Netanjahu hat sich bewusst dafür entschieden, die Hamas zu unterstützen und die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, weil er glaubte, dass dies der beste Weg sei, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Er hat den Wind gesät, den die israelische Gesellschaft nun als Sturm dieser Katastrophe ernten musste. Wie üblich hat er die Verantwortung für diese Katastrophe nicht übernommen. Diejenigen, die von Pogromen sprechen, verweigern eine politische Analyse und stellen die Juden als die ewigen Opfer der Geschichte dar. Opfer, die „alles tun dürfen“, um sich gegen die Mächte des Bösen zu verteidigen, einschließlich der Unterdrückung von Millionen von Palästinensern und der Tötung Tausender unschuldiger Zivilisten.

Wir beobachten, wie sich die Rhetorik verschärft und wie auch in der Praxis neue Maßstäbe gesetzt und Grenzen überschritten werden. Israels Verteidigungsminister Jo’aw Galant hat die vollständige Abriegelung des Gazastreifens angeordnet: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“

Solche Äußerungen sind ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und würden es rechtfertigen, Galant wegen der Anordnung von Kriegsverbrechen vor den internationalen Strafgerichtshof zu stellen.

Kann man zivile Opfer unter den Palästinensern verhindern, wenn man den Terror der Hamas bekämpfen will?

Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Im Krieg kann es vorkommen, dass Zivilisten zu Schaden kommen, und selbst ein Belagerungskrieg ist unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Wer Zivilisten vorsätzlich angreift, unverhältnismäßige Gewalt gegen sie anwendet und ihre Sicherheit eklatant missachtet, muss sich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwerfen lassen. Die Tatsache, dass die Hamas und andere militante islamische Organisationen im Gazastreifen eindeutig gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen, gibt den israelischen Verteidigungsstreitkräften keinen Freibrief für die massive Tötung von Zivilisten, sei es direkt oder durch den Entzug von Nahrung und Wasser.

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Was kann man gegen diese Mechanismen der Eskalation, der Rache, gegen die Logik des Krieges tun?

Die Zivilgesellschaft muss klarstellen, dass ihre Regierungen politische und nicht militärische Lösungen anstreben. Israel war zu der Überzeugung gelangt, dass es die palästinensische Frage „managen“ könne, indem es gelegentlich durch massive Bombenangriffe das Gras im Gazastreifen „mäht“ und das besetzte Westjordanland in isolierte Gemeinden unter einem System von Kontrollpunkten und Überwachung aufteilt. Man glaubte, die palästinensische Frage durch Friedensabkommen mit anderen arabischen Staaten, durch die Aufrechterhaltung der Rhetorik gegen den Iran und durch Repressalien unter den Teppich kehren zu können.

Omer Bartov: „Israel muss klar sagen, was sein politisches Ziel ist. Dieses muss eine  Einigung zwischen Israel und den Palästinensern sein.“
Omer Bartov: „Israel muss klar sagen, was sein politisches Ziel ist. Dieses muss eine Einigung zwischen Israel und den Palästinensern sein.“Tre Cassetta für Berliner Zeitung Wochenende

Sollte der Konflikt so militärisch eingefroren werden?

So lässt er sich jedenfalls nicht lösen. Der verabscheuungswürdige Angriff der Hamas muss als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Palästinenser zu lenken. Ein von den USA vermitteltes Friedensabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien schien unmittelbar bevorzustehen. Das hätte nach Ansicht vieler Palästinenser die Besetzung und Belagerung des Gazastreifens für immer aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt und damit aufrechterhalten. Wie Carl von Clausewitz bemerkte, darf der Krieg nur Politik mit anderen Mitteln sein. Israel muss klar sagen, was sein politisches Ziel ist. Dieses muss eine  Einigung zwischen Israel und den Palästinensern sein. Nur so und mit einer starken militärischen Vergeltungsfähigkeit lässt sich eine solche Gewalt in Zukunft verhindern. Ich bin davon überzeugt, dass die Extremisten ihre Macht über die Mehrheit verlieren werden, die einfach nur in Würde leben und eine bessere und sicherere Zukunft für sich und ihre Kinder erreichen will, wenn die Politik die Gewalt ersetzt und die Hoffnung die Verzweiflung.

Über admin

Hausarzt, i.R., seit 1976 im der Umweltorganisation BUND, schon lange in der Umweltwerkstatt, seit 1983 in der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (www.ippnw.de und ippnw.org), seit 1995 im Friedenszentrum, seit 2000 in der Dachorganisation Friedensbündnis Braunschweig, und ich bin seit etwa 15 Jahren in der Linkspartei// Family doctor, retired, since 1976 in the environmental organization BUND, for a long time in the environmental workshop, since 1983 in the medical peace organization IPPNW (www.ippnw.de and ippnw.org), since 1995 in the peace center, since 2000 in the umbrella organization Friedensbündnis Braunschweig, and I am since about 15 years in the Left Party//
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