ZWISCHENRUF
Der sprachliche Tunnelblick und das verpönte «Aber» https://wp.me/paI27O-53m
1. November 2023
Heiko Flottau
Nach einem Luftschlag im Flüchtlingscamp Nusseirat im Gazastreifen am 31.
Oktober 2023 (Keystone/AP Photo/Doaa AlBaz)
https://www.journal21.ch/artikel/der-sprachliche-tunnelblick-und-das-verpoente-aber
Ein Wort zur Hamas
Die «Islamische Widerstandsorganisation», wie sie sich selber
nennt, ist keineswegs als «Terrororganisation» gegründet worden.
Sie entstand aus der palästinensischen Muslimbruderschaft. Ein
Grund: Nachdem die laizistische PLO Jassir Arafats vergeblich nach
einer Zweistaatenlösung gesucht hatte, entschied sich die Hamas
für den Weg (den Arafat gar nicht mehr verfolgte), nämlich ganz
Palästina zu «befreien». Dass dieses Ziel in die grausamen,
unmenschlichen, absolut inakzeptablen Massaker vom 7. Oktober
2023 ausartete, hat Israel verständlicherweise in einen
Schockzustand versetzt und entsprechende Reaktionen
hervorgerufen. Sogar der Friedensaktivist Josse Beilin, der die
Verträge von Oslo 1993 mit verhandelt hat, spricht sich laut der
Süddeutschen Zeitung jetzt für eine Bodeno�ensive aus.
Jedoch: UN-Generalsekretär António Guterres hat recht, wenn er
sagt, der Überfall der Hamas sei nicht «out of the blue» gekommen.
Klickt man zum Beispiel die UN-Seite «O�ce for the Coordination
of Humanitarian A�airs (OCHA)» an, so �ndet man folgende
Statistik: Im Jahr 2022 wurden von den Israelis im Westjordanland
203 palästinensische Häuser zerstört, 1302 Palästinenser wurden
obdachlos. Und weiter: In den Jahren 2008 bis 2023 starben bei
israelischen Raids im Westjordanland 6407 Palästinenser, 152’550
wurden verletzt. Im selben Zeitraum wurden 308 Israelis von
Palästinensern getötet, 6307 Israelis wurden verletzt.
Interpretation: Viele Palästinenser wehrten sich zum Beispiel gegen
Übergri�e israelischer Siedler, die wiederum von der Armee
beschützt wurden. Laut Beobachtern der Vereinten Nationen
wurden seit Anfang 2020 mehr als 4000 Olivenbäume und andere
Bäume von israelischen Siedlern und Soldaten gefällt. Oliven sind
eine der Lebensgrundlagen der Palästinenser.
Natürlich gab es auch Bombenanschläge von Palästinensern gegen
Israelis. Aber die grosse Diskrepanz zwischen palästinensischen
und israelischen Opferzahlen zeigt, wer hier die Hauptleidenden
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sind. In den westlichen Medien ist von diesen Zahlen selten die
Rede. Sie zeigen aber: Besatzung ist Gewalt, Gewalt erzeugt
Gegengewalt.
Verpöntes «Aber»
Zurück zur «radikalislamischen Terrororganisation Hamas»: Kein
Zweifel, die Hamas hat zu ganz und gar inakzeptablen
Terrormitteln gegriffen. Aber – dieses «Aber» ist in deutschen
Talkshows verpönt – hätte Israel also in den vergangenen
Jahrzehnten ernsthaft eine Zweistaatenlösung verfolgt und auf
diesem Weg auch den Palästinensern ihr Recht gegeben, dann
würde nach Einschätzung mancher Kenner eine Hamas in dieser
schrecklichen Form wohl nicht existieren.
Das Abschlachten friedlicher Besucher eines Musikfestivals ist
nichts als Terror. Insofern ist die Hamas von einer
«Befreiungsorganisation», wie sie sich selber einst genannt hat, zu
einer Terrororganisation degeneriert, die zu Mitteln des
«Islamischen Staates (IS)» gegriffen hat.
Dennoch verschleiert die ständige Wiederholung des Mantras
«Terrororganisation» bewusst die historischen Zusammenhänge.
Von dieser geschichtlichen Tiefe ist im deutschen öffentlich-
rechtlichen Fernsehen leider kaum die Rede. In einer der ARD-
Talkshows, «Maischberger», war es ausdrücklich unerwünscht, mit
dem Wort «Aber» eine Diskussion zu den historischen
Hintergründen zu eröffnen.
Was kommt danach?
Die grosse Frage lautet: Was kommt danach? Bis jetzt sind die
Palästinenser abermals auf der Verliererseite. Kaum jemand spricht
darüber, welches politische Ziel Israel anstrebt – ausser der
Vernichtung der Hamas. In der ARD-Sendung «Hart aber Fair» vom
30. Oktober 2023 erklärte der ehemalige israelische Botschafter in
Deutschland, Shimon Stein, Israel müsse sich vollkommen von den
Palästinensern «trennen». Wie das geschehen soll, blieb offen.
Offenbar wird insgeheim über einen Gefangenenaustausch
gesprochen. Nach palästinensischen Angaben beffinden sich 9500
Palästinenser in israelischer Haft. 278 sitzen länger als 15 Jahre in
Gefangenschaft, 14 über 25 Jahre und zwei über 30 Jahre.
Anmerkung: In Deutschland kommt jeder rechtmässig verurteilte
Mörder im Allgemeinen nach 15 Jahren Haft frei.
Zu denen, die mehr als 15 Jahre im Gefängnis sitzen, zählt Marwan
Barghouti. Dieser prominente Vertreter der PLO-Untergruppe Fatah
war einer der Organisatoren der zweiten Intifada. Barghouti wurde
am 6. Juni 2004 zu einer fünffachen lebenslänglichen Haftstrafe
verurteilt, weil er, nach israelischen Angaben, bei
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Bombenanschlägen mehrere Israelis getötet habe. Barghouti galt als
möglicher Nachfolger Arafats. Im Gefängnis hat er sich für die
Versöhnung mit der Hamas ausgesprochen. Im Allgemeinen gilt er
als ein Mann, der – als Befürworter der Zweistaatenlösung – mit
Israel verhandeln könnte. Auch bei der Hamas wäre er
möglicherweise als Gesprächspartner akzeptiert – sofern diese
dann noch in irgendeiner, eher zivilisierteren Form existieren
würde.
Das Scheitern Netanjahus
Klar ist eines: Die Politik von Benjamin Natanjahu ist gescheitert.
Mehrfach hat der israelische Historiker Moshe Zimmermann in
deutschen Fernseh- und Hörfunkbeiträgen erklärt, Netanjahu habe
heimlich mit der Hamas kooperiert. Der Grund: In einem Punkt
seien die Interessen Netanjahus und der Hamas identisch gewesen,
weil sich beide Seiten gegen eine Zweistaatenlösung ausgesprochen
hätten. Mehrfach hat Moshe Zimmermann die gegenwärtige
Regierung seines Landes als rechtsradikal bezeichnet. Als solche
habe sie die Interessen des Landes verraten und den Schutz der
Bürger des Landes vernachlässigt. Die Konsequenz, laut Professor
Zimmerman: Unter Netanjahus Führung habe der Zionismus
versagt, weil dieser Zionismus den von ihm versprochenen Schutz
aller Bürger Israels nicht habe garantieren können.
In vielen Kommentaren ist zu hören, dass Benjamin Netanjahu
diese Krise politisch nicht überleben werde. Daher wird sich eine
neue israelische Führung mit den Palästinensern zusammensetzen
müssen. Weitere Kriege darf es nicht geben.
In diesem Sinne haben sich schon vor Jahren einige frühere Chefs
des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet geäussert. In dem Film «Töte
zuerst» des israelischen Dokumentarfilmers Dvor Moreh von 2012
gaben sie zu, dass nach all den Jahren der Kriegführung gegen die
Palästinenser Gewalt zu keiner friedlichen Lösung geführt habe.
Mehr noch: Der Mord an Jitzhak Rabin am 4. November 1995 durch
den radikalen Siedlerfreund Yigal Amir habe allmählich zu immer
grösserer Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern geführt.
Die Skepsis der Experten von Shin-Bet
Ami Ayalon, Schin-Bet-Chef von 1996 bis 2000, gibt zu Protokoll:
«Im Nachhinein hat das meine ganze Welt verändert. Plötzlich sah
ich Israel mit anderen Augen. Mir war das ganze Ausmass von Hetze
und Hass gar nicht bewusst gewesen.»
Avi Dichter, Schin-Bet-Direktor von 2000 bis 2005, räumt ein, dass
die israelische Politik, palästinensischen gewaltsamen Widerstand
mit der Ermordung der Anführer zu beantworten, nichts als weitere
Aufstände provoziere. Er sagt: «Es lief klar auf eine neue Intifada
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hinaus, auf den Aufstand eines Volkes, das glaubt, es habe nichts
mehr zu verlieren.» Und er fügt hinzu: «Wir wollen Sicherheit und
bekommen Terror, sie wollen einen Staat und sehen immer mehr
Siedlungen.»
Yuval Diskin, Schin-Bet-Direktor von 2005 bis 2011, sieht die
Aussichtslosigkeit der israelischen Kriegführung: «So bekommen
wir keinen Frieden. Frieden müssen wir uns aufbauen, auf einer
Vertrauensbasis, mit oder ohne militärische Schritte.»
Carmi Gillon, Schin-Bet-Direktor von 1994 bis 1996, fordert
ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern: «Israel kann
sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.»
Avraham Shalom, Schin-Bet-Direktor von 1981 bis 1986, stimmt
zu: «Ich würde mit allen reden, ausnahmslos, auch mit der Hamas
und auch mit dem Islamischen Jihad. Das schliesst auch
Ahmadineschad ein.» – Mahmud Ahmadineschad war zum
Zeitpunkt dieser Aussage iranischer Präsident.
Auch mit den Feinden sprechen
Diese bedeutenden israelischen Stimmen wurden von den Politikern
des Landes nie gehört. Man hätte aber aus der eigenen Geschichte
lernen können. Scheich Ahmed Yassin, Mitbegründer der Hamas,
wurde am 22. März 2004 von den Israelis getötet, Abdel-Asis
Rantisi, ein militärischer Kommandant der Hamas, wurde kurz
darauf, am 17. April 2004, von einem israelischen Kommando
getötet. Der Widerstand der Hamas wurde durch die Liquidierung
dieser Hamas-Führer nicht gebrochen.
Mit der Hamas reden? Mit den heutigen in Gaza wütenden
Schlächtern ist das nicht möglich. Mit der in Katar residierenden
politischen Führung der Hamas schon eher. Wird die militärische
Struktur der Hamas zerschlagen, bleibt allerdings immer noch die
Ideologie in den Köpfen.
Am Ende des Tages wird nur bleiben, was der «New York Times»-
Journalist jüdischer Abstammung, Roger Cohen, während des US-
Krieges gegen Saddam Hussein gefordert hat. Man müsse, schrieb
Cohen, auch mit seinen Feinden sprechen.
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