Liebe Friedensbewegte in Braunschweig, den unten anhängenden SZ-Artikel von Prof. Michael Barenboim finde ich höchst bemerkens- und lesenswert. Wer ihn nicht kennt: Michael Barenboim ist Sohn von Daniel Barenboim, dem weltberühmten Dirigenten und bis 2023 Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden sowie Gründer des West-Eastern Divan Orchestra, der sowohl die israelische (als in Argentinien geborener Jude wuchs er später in Israel auf) als auch die palästinensische Staatsbürgerschaft(!) besitzt. Auch Michael Barenboim ist bereits ein berühmter Musiker und ein phänomenaler Geist, wie Sie/Ihr aus dem anhängenden Artikel ersehen können/könnt.
https://www.sueddeutsche.de/kultur/michael-barenboim-resolution-antisemitismus-bundestag-lux.EjUq1rG9JX9s4EjXokwwvG Feuilleton, 12.08.2024
Resolution „Nie wieder ist jetzt“
Einer Demokratie unwürdig
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Der Bundestag will eine Resolution verabschieden, die “jüdisches Leben in Deutschland schützen” soll – und ich komme aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Gastbeitrag von Michael Barenboim
Im Laufe des Sommers soll eine in den vergangenen Wochen und Monaten konzipierte Resolution der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit dem vorläufigen Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“ verabschiedet werden.
Mit dieser Resolution hat sich der Bundestag die Aufgabe gestellt, „die Vielfalt jüdischen Lebens anzuerkennen, sichtbar zu machen, zu bewahren und zu schützen“. Dies sei „Ausdruck der deutschen Staatsräson“. Inwiefern es aber jüdisches Leben schützen soll, wenn unter Berufung auf jene Staatsräson Begriffe im Zusammenhang mit Israel als antisemitisch bezeichnet werden, die völlig legitim eine unerträgliche Situation beschreiben, ist schwer nachvollziehbar.
Zur Erinnerung: In einem Gutachten vom 19. Juli 2024 bezeichnet der Internationale Gerichtshof die Besetzung von Ost-Jerusalem, der Westbank und Gaza als rechtswidrig, sie müsse so schnell wie möglich beendet werden, die Siedlungen seien zu räumen, Reparationen an die Palästinenserinnen und Palästinenser zu leisten. Israel verstoße auch gegen Artikel 3 des CERD (Committee on the Elimination of Racial Discrimination), der Rassentrennung und Apartheid verbietet. Drittstaaten müssen demzufolge jede Unterstützung unterlassen, die die Besatzung fördert. Zudem hat im Fall Südafrika gegen Israel der Internationale Gerichtshof vor der Gefahr eines Genozids in Gaza gewarnt und mehrfach verbindliche Maßnahmen angeordnet, die Israel ignoriert.
Was sich aus der Verantwortung Deutschlands ableiten lässt – und was nicht
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Die geplante Resolution würde de facto sogar den Verweis auf das Gutachten des IGH (sowie das Gutachten selbst!) unter Antisemitismusverdacht stellen und damit den vorangegangenen Absatz als antisemitisch bewerten. Grund dafür ist unter anderem die IHRA-Definition von Antisemitismus, deren Anwendung es prinzipiell ermöglicht, jede kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik Israels als antisemitisch einzustufen.
Aus der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust lässt sich ein unbedingtes Bekenntnis zu den Menschenrechten und zum Völkerrecht ableiten, um, wie es im Grundgesetz heißt, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Daraus darf allerdings keinesfalls die Unterdrückung von Stimmen abgeleitet werden, die berechtigte Kritik an einem Staat üben, der seit mehr als einem halben Jahrhundert ein gewaltsames und völkerrechtswidriges Besatzungsregime unterhält und mutmaßlich für einen Völkermord in Gaza verantwortlich ist. Repressive Maßnahmen gegen völkerrechtskonforme Äußerungen schützen keineswegs jüdisches Leben. Sie untergraben vielmehr jede Hoffnung auf eine friedliche gemeinsame Zukunft in der Region, die auf der Einhaltung des Völkerrechts beruht.
Damit wird erneut Jüdinnen und Juden die Pluralität ihrer Positionen abgesprochen
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Insgesamt lässt der Verweis auf Israel, dessen Politik bekanntermaßen auch von vielen Jüdinnen und Juden kritisiert wird, vermuten, dass es hier eigentlich nicht um die Bekämpfung von Antisemitismus geht, sondern um die Unterdrückung propalästinensischer Stimmen. Nicht alle Jüdinnen und Juden werden hier geschützt, sondern nur diejenigen, die die Politik der Regierung Israels unterstützen. Das ist einer Demokratie unwürdig.
Damit wird erneut Jüdinnen und Juden in Deutschland die Pluralität ihrer Positionen und Erfahrungen abgesprochen. Sie werden damit letztlich nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen: sie, die jüdischen „Anderen“, sollen ja von „uns“ geschützt werden. Vor wem? Vor den noch andersartigeren Anderen: den Palästinensern, den Muslimen, den Arabern. Diese Haltung spaltet. Sie ist nicht nur gegenüber Deutschen mit „muslimisch geprägtem“ Migrationshintergrund vollkommen inakzeptabel, sondern auch gegenüber jüdischen deutschen Staatsbürgern, wie mir selbst. Ich lebe seit meinem 7. Lebensjahr in Deutschland und wehre mich entschieden gegen ein solches Othering.
Unlängst habe ich in einem Interview gesagt, dass die Menschenrechte für alle gelten, außer anscheinend für Palästinenser. Und ich fügte hinzu, dass die freie Meinungsäußerung eigentlich für alle gelte, außer wenn sie sich für Palästina äußern wollen. Seither wache ich jeden Tag auf und hoffe, dass ich Unrecht habe. Dafür, dass ich den IGH zitiere und von Menschenrechten spreche, bekomme ich fast täglich wüste Beschimpfungen (darunter solche Perlen wie: „selbsthassender Jude“, „Verräter“, man solle mich „nach Gaza schicken“). Andere beglückwünschen mich zu meinem Mut. Es ist bezeichnend für den völlig aus dem Ruder gelaufenen Diskurs in diesem Land, dass von Mut die Rede ist, wenn die Einhaltung des Völkerrechts gefordert wird. Letzteres sollte selbstverständlich sein.
Schon seit Monaten, während die Resolution noch nicht verabschiedet ist, verlieren viele Menschen hierzulande, darunter viele Jüdinnen und Juden, ihre Arbeit, ihre Aufträge, ihre Auftritte, sogar ihre Einreisegenehmigungen. Kongresse werden gewaltsam aufgelöst, Studierendenproteste unterdrückt, Demonstrationen verboten. Diese Resolution würde diese autoritären Tendenzen verstärken und schützt niemanden.